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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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lächelnd, »Vaughan, wenn ich bitten darf …«
    »Nein, ich, äh … Ich kann nicht. Ich meine …«, murmelte ich auf meinem Platz in der ersten Reihe.
    Die gespannte Erwartung der Gemeinde ließ sich förmlich mit Händen greifen. Den runzligen Gesichtern war die Hoffnung deutlich anzusehen, dass diese meine Rede ein wenig Glanz in ihren altersgrauen Alltag bringen möge. Sie kamen nur noch selten vor die Tür; da war die Ansprache bei der Beerdigung eines lieben Freundes ein Unterhaltungshighlight erster Güte.
    »Ich weiß, es ist nicht leicht«, sagte der Pfarrer.
    »Du hast ja keine Ahnung …«, dachte ich, und da aller Augen auf mich gerichtet waren und der Pfarrer keinerlei Anstalten machte, zum nächsten Tagesordnungspunkt überzugehen, hievte ich mich schwerfällig hoch und trottete zur Kanzel.
    Die Trauergemeinde bedachte mich mit einem kollektiven Lächeln milder Anteilnahme. Ich holte tief Luft. Mir zitterten die Knie, als ich mit beiden Händen das Pult umklammerte.
    »Was soll ich über meinen Vater sagen?«
    Ich machte eine lange, bedeutungsschwangere Pause, um ein paar Sekunden Bedenkzeit zu gewinnen. Ein pensionierter Kamerad der Royal Air Force quittierte meine rhetorische Frage mit einem vielsagenden Nicken.
    »Mein Vater! Mein alter Vater …«
    In einer der hinteren Reihen wurde keuchend gehustet.
    »Nun ja, da gäbe es so viel zu sagen, dass es mir geradezu anmaßend erscheint, ein ganzes Leben in wenigen Minuten zusammenfassen zu wollen …« Eine alte Dame in der dritten Reihe runzelte missbilligend die Stirn. »Er konnte auf eine herausragende Karriere in der Royal Air Force zurückblicken, wo er in den hohen Rang eines Air Commodore aufstieg und seinem Vaterland so vorbildlich diente, dass er dafür zum CBE ernannt wurde. Nein, nicht zum CBE , zum CB . Ohne ›E‹. Äh, er war überall auf der Welt stationiert und wollte seine Familie dennoch stets um sich haben.« Höchste Zeit, sich einfach irgendetwas auszudenken und die Daumen zu drücken, dass es stimmte. »Da er mir ein wunderbarer Vater und meiner verstorbenen Mutter ein liebevoller Ehemann war …« Allseits andächtiges Nicken, so falsch konnte ich also nicht liegen. Doch selbst wenn sich herausgestellt hätte, dass letztere Behauptung nicht ganz der Wahrheit entsprach, hätte es wohl kaum jemand gewagt zu widersprechen. Zwar konnte ich mich nicht entsinnen, je an einer Beerdigung teilgenommen zu haben, doch Zwischenrufer stießen dort gewiss auf wenig Gegenliebe. Dillie sah bewundernd zu mir hoch.
    »Aber er war auch ein fabelhafter Großvater. Ich erinnere mich an einen Urlaub in Cornwall« – ich kicherte leise in mich hinein –, »er war immer so geduldig und nachsichtig mit seinen Enkelkindern.« Das kam gut an; sie lechzten förmlich danach zu erfahren, wie genau sich diese bemerkenswerte Eigenschaft geäußert hatte. »Er hatte … wirklich sehr viel Geduld mit ihnen …«
    Wieder wurde gehustet.
    »Er und meine Mutter waren berühmt für ihren recht gehaltvollen hausgemachten Wein …« Hier und da lächelte jemand. »Und er konnte auf eine lange, herausragende Karriere in der Royal Air Force zurückblicken …« Mir wurde klar, dass ich das erstens bereits gesagt und zweitens keinen Schimmer hatte, was ich sonst noch sagen sollte. »Er hatte sehr interessante Regimentsmanschettenknöpfe und eine altmodische Uhr.« Ich verstummte, stieß einen langgezogenen Seufzer aus, zuckte mit den Schultern und deutete ein Kopfschütteln an, als ob ich sagen wollte: »Offen gestanden, mehr fällt mir nicht ein.« Ich spürte, wie mir ein Schweißrinnsal den Rücken hinabrann, und merkte, dass mir die Hände zitterten. In meiner Panik griff ich zu einem der billigsten Tricks aller Zeiten. Ich fasste mir mit Daumen und Zeigefinger ans Nasenbein und sagte mit erstickter Stimme: »Und er wird mir schrecklich fehlen …«
    Es wirkte umso überzeugender, als ich aus purer Verlegenheit rot angelaufen war, und jetzt biss ich mir auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich meine Trauer gar nicht zu spielen brauchte, denn er fehlte mir tatsächlich. Er hatte sich über jeden meiner Besuche gefreut und mich mit seiner positiven Weltsicht angesteckt, obwohl doch eigentlich ich ihn hätte aufheitern müssen. Womöglich traten meine Gefühle etwas deutlicher zutage, als ich dachte, denn als ich den Blick hob und die Hand von meiner zerfurchten Stirn sinken ließ, sah ich, dass die beiden Damen, die als

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