Der Mann, der seine Frau vergaß
Erste gekommen waren, sich mit einem Taschentuch die Nase tupften. Ein altes Ehepaar, das mich angeblich von Geburt an kannte, zerdrückte eine Zähre. Und direkt vor mir, in der ersten Reihe, saß Maddy, und die Tränen rollten ihr über die Wangen. Nur meine Kinder bewahrten die Fassung; sie schienen eigentlich eher peinlich berührt angesichts einer halben Hundertschaft vermeintlich souveräner Erwachsener, die sich derart gehen ließen.
Als ich sah, wie erschüttert Maddy war, machte in mir plötzlich irgendetwas Klick. »Und wenn es jemanden gibt, auf den mein Vater große Stücke hielt, dann ist es Maddy«, sagte ich und schaute sie an. Mit einem Mal kamen mir die Worte wie von selbst über die Lippen, und es stellten sich all die Gefühle ein, die ich zuvor nicht empfunden hatte. »Als er im Krankenhaus lag, waren ihre regelmäßigen Besuche für ihn der Höhepunkt des Tages. Er betonte immer wieder, wie warmherzig und intelligent sie doch sei, denn der Gedanke, dass unsere Beziehung eines Tages in die Brüche gehen und er seine geliebte Schwiegertochter verlieren könnte, war ihm ein Gräuel. Die traurige Wahrheit sollte er nie erfahren, denn um ihn zu schonen, hatten wir ihm wohlweislich verschwiegen, dass sein einziger Sohn nicht in der Lage war, eine harmonische Ehe zu führen, wie er es allen Widrigkeiten zum Trotz jahrzehntelang getan hatte.«
Die Nachricht, dass die Ehe von Keiths Sohn gescheitert war, rief allgemeines Bedauern hervor. Die Trauergemeinde hing jetzt wie gebannt an meinen Lippen. Nur der Pfarrer war nicht sonderlich begeistert und sah immer wieder demonstrativ auf seine Armbanduhr, da es ihm offenbar in erster Linie darauf ankam, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Särge in die Verbrennungsöfen zu befördern.
»Als Maddy bei ihrem letzten Besuch seine Enkelkinder mitbrachte, wussten wir, glaube ich, alle, dass er sie niemals wiedersehen würde. Die Kinder gingen sehr erwachsen damit um, waren liebevoll und zärtlich, und er weigerte sich beharrlich, sich von einer Kleinigkeit wie seinem bevorstehenden Tod die Laune verderben zu lassen. ›Wie schön, euch alle um mich zu haben!‹«, sagte ich und ahmte seine Stimme nach. »›Was bin ich doch für ein Glückspilz, dass ich eine so wunderbare Familie habe!‹«
Die Zuhörer erkannten Keiths unverbrüchlichen Optimismus und lächelten bei der Erinnerung daran. »›Was bin ich doch für ein Glückspilz!‹, sagte er zu uns, während er an unzähligen Schläuchen hing. ›Was bin ich doch für ein Glückspilz!‹, sagte er trotz aller Qualen und Schmerzen. ›Was bin ich doch für ein Glückspilz! Und sei es nur, weil mir noch ein paar Tage bleiben!‹«
Jetzt war ich richtig in Fahrt. Ich hatte mein Thema gefunden und predigte mit geradezu missionarischem Eifer. »Und vielleicht ist dem Andenken meines Vaters am besten gedient, wenn wir alle diese Weltsicht mit nach Hause nehmen und uns immer dann an Keith zu erinnern versuchen, wenn wir schlecht gelaunt sind oder Selbstmitleid empfinden. ›Mein Flug hat Verspätung; was bin ich doch für ein Glückspilz, dass ich nicht nur einen Buchladen entdeckt habe, sondern auch ein Café, in dem ich lesen kann!‹ ›Ich lebe getrennt von meiner Frau und meinen Kindern. Aber was bin ich doch für ein Glückspilz, dass ich sie alle kenne, mich an so viele wunderbare gemeinsame Erlebnisse entsinnen kann und ihr Werden und Wachsen miterleben darf …‹«
Die Körpersprache des Pfarrers ließ keinen Zweifel daran, dass meine Redezeit zu Ende ging. In ein paar Minuten würde er vermutlich das Knöpfchen drücken und den Sarg den Flammen übergeben, ganz gleich ob ich fertig war oder nicht.
»Dieser Gedanke kommt vermutlich jedem Sohn, der seinen Vater verloren hat, aber Sie dürfen mir glauben, wenn ich sage, dass ich gern mehr Zeit gehabt hätte, um ihn besser kennenzulernen. Sein Tod hat mich in meinem Entschluss bestärkt, jede freie Minute mit meiner eigenen Familie zu verbringen, mich an jede Erinnerung zu klammern – auch wenn wir nicht so oft zusammen sein können, wie ich es mir wünschen würde, und Maddy jetzt einen neuen Partner hat.«
»Nein«, warf Dillie ein. »Sie hat mit ihm Schluss gemacht.«
Der Zwischenruf war nicht besonders laut gewesen: Die Kinder saßen in der zweiten Reihe. Es war eher ein zaghafter Hinweis als eine öffentliche Erklärung. Aber ich hatte sie deutlich vernommen und sie obendrein »Stimmt doch!« flüstern hören, als Jamie sie schalt, weil sie
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