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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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arbeiten ging – wahrscheinlich hatte ich unbewusst vorausgesetzt, dass sie Hausfrau war. Ich klingelte ein zweites Mal, in der vagen Hoffnung, dass sie den Hund womöglich überhört hatte, worauf dieser von Neuem anschlug. Ich spähte durch den Briefschlitz und rief erwartungsfroh: »Hallo?« Schlagartig änderte sich das Verhalten des Hundes. Als er mich erkannte, gab er freudig Laut; er wedelte so heftig mit dem Schwanz, dass die gesamte hintere Hälfte seines Körpers hin und her wackelte. Es war ein großer Golden Retriever; jaulend vor Begeisterung leckte er die Hand, die den Briefschlitz geöffnet hielt. Ich hatte nie darüber nachgedacht, ob ich Hunde mochte oder nicht, fühlte mich aber instinktiv zu dem Tier hingezogen.
    »Hallo, alter Junge! Wie heißt du denn? Ja, ich bin’s. Kennst du mich noch? Bin ich immer mit dir Gassi gegangen?«
    Bei dem Wort »Gassi« geriet der Hund ganz aus dem Häuschen, und mein Gewissen meldete sich, weil ich ihn so verrückt gemacht hatte, obwohl ich doch gleich wieder gehen musste.
    Ich nahm das Haus von der anderen Straßenseite aus in Augenschein und suchte nach weiteren Hinweisen, die mir etwas über seine Bewohner verrieten. Mir fiel auf, dass es nicht ganz so gepflegt schien wie die Häuser ringsum: Am Balkongeländer blätterte die Farbe ab, und die Glasscheiben in der Haustür passten nicht zueinander; die eine war aus antikem Ornament-, die andere aus schnödem Fensterglas. Als ich mir das Haus so ansah und seine Ausstrahlung auf mich wirken ließ, kamen mir fast die Tränen. Was hatten wir uns doch für ein wunderschönes Heim geschaffen. Mit seinen bunt gestrichenen Fensterläden und den überquellenden Blumenkästen strotzte es förmlich vor Charakter. Das schrullige, verglaste Türmchen bot einer Person ausreichend Platz, um zu lesen oder die Londoner Skyline zu betrachten. Aus dem Schieferdach lugten Gauben hervor, hinter denen sich vermutlich gemütliche Teenagerzimmer mit schräger Decke verbargen. In der mittleren Etage gab es einen Balkon, und von der Seite erspähte ich einen ausgebleichten Sonnenbaldachin, der den Garten überragte, wo eine wildwuchernde Jungfernrebe in letztem Kupferglanz erblühte.
    Ich versuchte, mir vorzustellen, wie Maddy und ich an einem lauen Sommerabend auf dem Balkon saßen und eine eisgekühlte Flasche Weißwein tranken, während die Kinder im Garten spielten. War das eine undeutliche Erinnerung oder doch nur ein idealistischer Wunschtraum, den wir durch unsere ewigen Streitereien ein für allemal unmöglich gemacht hatten? Jetzt, wo ich die Welt mit anderen Augen sah, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass nicht ich, sondern der alte Vaughan ein Fall für den Psychiater gewesen war, wenn er all das einfach weggeworfen hatte.
    Ich war so sehr in meinen Tagträumen und Fantasien gefangen, dass ich das Auto, das soeben vorgefahren war, fast nicht bemerkt hätte. Als ich sah, wer darin saß, duckte ich mich erschrocken und aufgeregt zugleich hinter einen Van. Ich ging in die Hocke und beobachtete alles im Seitenspiegel des Vans. Maddy steckte den Kopf durchs Fahrerfenster und manövrierte den ziemlich verdreckten Wagen ziemlich souverän in eine extrem schmale Parklücke, was mich kurioserweise mit Stolz erfüllte. Sie stieg aus. Sie trug eine orangerote, unterhalb der Taille ausgestellte Jacke, in der sie noch eleganter und aparter aussah als zuvor. Ihr Haar war hochgesteckt, und sie trug kleine Ohrringe.
    Wenn ich sie mir so ansah, konnte es eigentlich nur eine logische Erklärung geben: Die Behörden hatten einen Riesenfehler gemacht – und trieben erbarmungslos die falsche Scheidung voran. Das konnte weder Maddy noch ich je gewollt haben. Warum sollte ich mich von einer so schönen Frau trennen? Tja, jetzt hatte ich Gelegenheit, sie kennenzulernen; endlich konnte ich mich meiner Frau vorstellen.
    Doch just als ich hinter dem Van hervortrat, öffnete sich die Beifahrertür von Maddys Wagen, und ein Mann stieg aus; ich ging wieder in Deckung. Die beiden holten riesige Bilderrahmen aus dem Kofferraum und trugen sie zur Haustür. Wer war das? Ihr Geschäftspartner? Ihr Bruder? Ihr Liebhaber? Der Mann war jünger als ich und etwas zu schnieke für einen bloßen Lieferanten. Leidenschaftslos schleppte er Rahmen um Rahmen zur Tür. War Maddy Malerin? Kunsthändlerin? Und wenn ja, warum hatten Gary und Linda das mit keiner Silbe erwähnt? Ich hockte in meinem Versteck hinter dem Van, und obwohl mir sämtliche Knochen

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