Der Mann, der seine Frau vergaß
Ich wollte mit ihr reden. Ich würde meiner Frau gegenübertreten, von Angesicht zu Angesicht. Und ihr mitteilen, dass ich das Gedächtnis verloren hatte. Das war ich ihr schuldig, schließlich hatte es schwerwiegende Konsequenzen für ihr Leben, die Kinder, unsere Scheidung. Sie musste erfahren, was geschehen war. Und das möglichst bevor die Kinder aus der Schule kamen, sodass uns noch genügend Zeit blieb, den Scheidungstermin zu verschieben. Mit anderen Worten: sofort.
»Jedenfalls«, sagte ich mir, »würde ich meine Frau gern etwas näher kennenlernen, bevor ich mich von ihr scheiden lasse.«
6. KAPITEL
Gary hatte mir erzählt, wie Maddy und ich durch eine bemerkenswerte Verkettung glücklicher Umstände an eine viktorianische Villa in Clapham gekommen waren. In den Achtzigerjahren war das halbverfallene Gebäude mit Brettern vernagelt worden; das Dach hatte riesige Löcher, und die Balkons im ersten Stock waren mit Unkraut überwuchert. Nach dem Studium hatten Maddy und ich uns mit einer Gruppe von Hausbesetzern angefreundet, die das seit Langem leer stehende Haus zu ihrem nächsten Domizil erkoren hatte. Doch als es schließlich ernst wurde, erwies sich Maddy als die Mutigste von allen. Während ich mich dezent im Hintergrund hielt und mir Gedanken darüber machte, ob wir nicht vielleicht zuerst eine Erlaubnis einholen sollten, rückte sie den verrammelten Fenstern kurz entschlossen mit dem Brecheisen zu Leibe. In den darauffolgenden Wochen durchforsteten wir Müllcontainer nach Feuerholz und rückten zum Schutz gegen nächtliche Eindringlinge schwere Möbel vor die Türen. Aber wie sich herausstellte, waren die zuständigen Behörden so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie darüber glatt vergaßen, das Haus zu räumen. Freunde gingen ein und aus, darunter auch zwei selbsternannte Anarchokünstler, deren Idee, das ganze Gebäude in eine »Party-, Performance- und Event-Werkstatt« zu verwandeln, jedoch schon daran scheiterte, dass sie morgens nicht aus den Federn kamen.
Ein paar Jahre später gründeten wir eine gemeinnützige Genossenschaft, was es der Stadt etwas schwerer machte, uns auf die Straße zu setzen. Wie es schien, hatte ich nicht nur den gesamten Papierkram erledigt, sondern obendrein die juristische Verantwortung übernommen, und als das entsprechende Gesetz schließlich geändert wurde und Genossenschaftsmitgliedern ein Vorkaufsrecht einräumte, waren außer Maddy und mir längst alle ausgezogen. In zwanzig Jahren waren wir von radikalen Hausbesetzern zu respektablen Eigenheimbesitzern geworden, ohne dafür einen Finger krumm machen zu müssen. In dem Erkerfenster, das Maddy damals aufgebrochen hatte, hing nun ein Poster, das für den »Herbstbasar« an der Schule unserer Kinder warb. Am Briefkasten prangte ein Aufkleber mit der Aufschrift » Keine Werbung «. Als noch ein kleiner Strauch aus dem Küchenboden wuchs, hatten wir vermutlich andere Sorgen gehabt als Reklame.
Und so stand ich nun vor unserem Haus, um das sich unendlich viele Erinnerungen rankten, die mir allesamt entglitten waren. Eigentlich hatte ich geradewegs zur Haustür marschieren und klingeln wollen, doch als ich die Gegensprechanlage sah, verließ mich der Mut. Der Gedanke, durch den elektronischen Filter eines stimmverzerrenden Mikrofons ersten Kontakt mit meiner Frau aufnehmen zu müssen, behagte mir gar nicht. Als ich Garys und Lindas Wohnung verlassen hatte, war ich fest entschlossen gewesen, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Aber jetzt zitterte mein Finger, als ich die Hand nach dem Klingelknopf ausstreckte. Ich zögerte einen Augenblick. Was, wenn eines meiner Kinder schulfrei hatte und mir die Tür aufmachte? Ich malte mir aus, wie meine Tochter mit einer Freundin aus dem Haus kam und ich nicht wusste, welche von beiden einst meinen Lenden entsprungen war. Hier ging es nicht nur um meinen Geisteszustand.
Trotzdem führte kein Weg daran vorbei. Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, strich mein Hemd glatt und drückte die Klingel. Worauf zu meinem Erstaunen lautes Gebell durch die Tür drang. Ein Hund! Von einem Hund hatte mir niemand etwas gesagt. Doch dies war das wütende Gebell eines Wachhundes, der allein im Haus ist – weit und breit kein Frauchen, das besänftigend auf das Tier einredete und dem wilden Gekläff ein Ende machte. Maddy war nicht da. Damit hatte ich nicht gerechnet, vermutlich weil sie vormittags zu Hause gewesen war. Mir wurde klar, dass ich noch nicht einmal wusste, ob sie
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