Der Mann, der seine Frau vergaß
bekommen, wofür wir bezahlt haben.) »Eine Schaffner in ?«, schießt es mir durch den Kopf. »Das gibt es auch nicht alle Tage.«
»British Rail möchte sich in aller Form dafür entschuldigen, dass der Kellner im Speisewagen so ein sexistisches Arschloch ist. Wir sind uns durchaus darüber im Klaren, dass die weiblichen Fahrgäste weder um ihre Telefonnummer gebeten noch danach gefragt werden möchten, ob sie einen Freund haben, schon gar nicht von einem Mittvierziger mit Ehering und einem Namensschild mit der Aufschrift Jeff.« Maddy beherrscht das monotone Geleier aus dem Effeff. Plötzlich tauschen die Leute ringsum grinsend vielsagende Blicke, während mein Herz schneller rast als der Zug. »Außerdem würden wir es begrüßen, wenn Jeff weiblichen Gästen in die Augen schauen würde, während er ihnen das 24-Stunden-Frühstücksbrötchen über den Tresen reicht, statt ihnen unverhohlen auf die Brüste zu starren. Unser nächster Halt ist Didcot Parkway, und Jeff täte gut daran, dort auszusteigen und sich vor den Zug zu legen. Vielen Dank.«
Die Frauen in unserem Waggon brechen in spontanen Beifall aus. Hier und da sind sogar Bravorufe zu hören. Nur die alte Dame ein paar Plätze weiter lauscht mit ebenso besorgter wie konzentrierter Miene, als handele es sich um eine offizielle Durchsage.
Ich kann es kaum erwarten, dass Maddy endlich wiederkommt. Ich bin unglaublich stolz auf sie; sie ist witzig und couragiert und hat die Fahrgäste nicht nur zum Lachen gebracht, sondern auch dafür gesorgt, dass wildfremde Menschen sich angeregt unterhalten. Der Tumult ist noch in vollem Gange, als sie, ohne eine Miene zu verziehen, zur Tür hereingeschlendert kommt, ganz so als wäre nichts geschehen. »Da ist sie, unsere heldenhafte Ansagerin!«, gebe ich lauthals bekannt und räume demonstrativ den Tisch frei, damit die Heldin des Tages mein Dosenbier und das zu unverhoffter Berühmtheit gelangte 24-Stunden-Frühstücksbrötchen abstellen kann. Es ist wahrscheinlich ein Fehler, es dem ganzen Zug zu verkünden. Aber im Grunde macht es uns nichts aus, in Didcot Parkway aus dem Zug geschmissen zu werden. Schließlich kann man an einem Dienstagabend auch in Didcot jede Menge unternehmen.
Das Bemerkenswerte an dieser Erinnerung war das Gefühl von Stolz und Liebe, das sie in mir hervorrief. Als Maddy unseren Waggon betrat, war das eine der komischsten Szenen aller Zeiten. Wie sie kaltschnäuzig und mit ungerührter Miene Platz nahm und herzhaft in das Brötchen biss – eine komödiantische Meisterleistung ersten Ranges.
Umso frustrierender fand ich es, dass ich zu wenig über unser früheres Leben wusste, um sie richtig einordnen zu können. Es war, als wäre ich in einer winzigen Zelle eingesperrt, wo ich mit dem Kopf gegen die Decke stieß, während ich ständig auf und ab lief und jeden Mauerstein und jede Bodenfliese immer und immer wieder inspizierte. Alles, was sich seit dem 22. Oktober zugetragen hatte, war auf meiner Lebenskarte detailliert verzeichnet, doch von dem unerforschten Kontinent dahinter gab es nur ein paar unscharfe Schnappschüsse aus der Luft.
Die Erinnerung an die Zugdurchsage war mir beim Aufwachen gekommen, ohne erkennbaren Auslöser oder bestimmte Assoziationen. Außer dass ich schon beim Einschlafen an Maddy gedacht hatte und noch immer an sie dachte, als ich wach wurde. Die Gerichtsverhandlung lag ein paar Tage zurück, und ich hatte ausnahmsweise einmal lange geschlafen. Gern hätte ich die Geschichte von Gary und Linda offiziell bestätigen lassen, aber die beiden waren schon weg. Linda hatte das Krankenhaus um einen zusätzlichen Ultraschalltermin gebeten, wohl um Gary zu beweisen, dass sie tatsächlich schwanger war.
Ich braute mir eine Tasse Tee und versuchte, ihn ohne Zucker zu trinken wie der alte Vaughan. Um meine Rückkehr in die Normalität ein wenig zu beschleunigen, hatte ich mir vorgenommen, alles genau so zu machen wie früher. Ich trank einen Schluck, verzog angewidert das Gesicht und griff nach der Zuckerdose. Ich wanderte im Pyjama durch die Wohnung. Ich betrachtete die Bücher im Regal, meterweise Promi-Autobiografien, verfasst von namenlosen Ghostwritern. Ich schaltete den Fernseher ein und zappte mich durch Dutzende von Programmen – Wiederholungen alter Seifenopern über heillos zerstrittene Familien, unterbrochen von Werbespots mit glücklichen, lachenden Familien. Ich machte die Glotze wieder aus und starrte eine Weile auf den leeren Bildschirm. Zwischen Wand und
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