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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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weder an uns noch an unser Haus erinnern?«
    »Nicht direkt.«
    »Nicht direkt?«
    »Na schön – nicht im Geringsten. Obwohl mir das eine oder andere wieder eingefallen ist. Zum Beispiel wie in Irland das Zelt über uns zusammengebrochen ist und du auf einer längeren Zugfahrt eine Durchsage gemacht hast.«
    »Ach ja, deswegen sind wir sogar aus dem Zug geflogen.«
    »In Didcot Parkway.«
    »Nein, in Ealing Broadway.«
    Ich widersprach ihr nicht, doch es war hundertprozentig Didcot Parkway.
    »Aber das ist bis jetzt auch alles. Nein, nicht ganz. Vorgestern Nacht hatte ich einen lebhaften Traum, in dem es um jemanden mit dem Spitznamen Bambi ging.«
    Maddy errötete leicht, sagte jedoch nichts.
    »Was ist? Du weißt, wer Bambi ist, nicht wahr?«
    »Bambi hast du mich immer genannt. Damals, an der Uni.«
    »Bambi?«
    »Du hast gesagt, ich hätte die gleichen Augen. Nicht zu fassen, dass ich auf diesen Schmu hereingefallen bin.« Sie tat, als würde sie sich die Finger in den Rachen schieben.
    »Aber war Bambi nicht ein Männchen?«
    »Ja, ein Rehbock. Abgesehen davon sah ich angeblich genauso aus wie er.«
    »Nun ja, ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber du hast wirklich wunderschöne Augen.«
    Da ihr keine passende Antwort einfiel, nippte sie an ihrem Tee. »Du hast wirklich alles vergessen, was? Ich habe ›wunderschöne Augen‹? Wie kommst du denn plötzlich darauf? Es ist noch nicht allzu lange her, da hast du mich als egoistische Kuh bezeichnet, die dich in den Ruin treibt.«
    »Wirklich? Wenn ich das gesagt habe, tut es mir leid. Aber ich kann mich einfach nicht daran erinnern.«
    »Wie schön für dich.«
    »Eigentlich nicht«, sagte ich langsam und starrte zu Boden. »Anfangs hat es mir vor allem eine Heidenangst gemacht.«
    »Entschuldige. Es fällt mir schwer, das zu begreifen. Also – du hattest alles vergessen, sogar wie du heißt?«
    »Ja, ich lag eine Woche im Krankenhaus und wusste nichts mehr. Ich dachte Tag und Nacht darüber nach, wer ich wohl gewesen war, bevor ich das Gedächtnis verloren hatte. Ich fragte mich, ob ich ein anständiges Leben geführt hatte, ob ich ein guter Mensch gewesen war. Verstehst du, was ich meine?«
    »Ich glaube schon …«
    »Und jetzt muss ich feststellen, dass meine Ehe im Eimer ist, ich seit Wochen bei irgendwelchen Freunden auf dem Sofa übernachte und mein ganzes Geld für einen Scheidungsanwalt auf den Kopf gehauen habe.«
    Sie wusste nicht recht, was sie dazu sagen sollte. Stattdessen kamen ihr die Tränen, und sie begann leise zu weinen. In diesem Augenblick wollte ich meine Frau in die Arme nehmen und ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen hauchen – nichts hätte ich mir sehnlicher gewünscht. Ich zögerte einen Moment, dann beugte ich mich vor und strich ihr sanft über den Arm.
    »Was machst du denn da?«
    »Äh – dich trösten.«
    »Lass das!«
    Der Hund kam zu ihr und leckte ihr die Hand, was sie sich von mir wohl kaum hätte gefallen lassen.
    »Ich spiele nur ungern den Überbringer schlechter Nachrichten«, sagte ich. »Aber ich wollte es dir unbedingt persönlich sagen.«
    Eine Weile herrschte betretenes Schweigen, und jetzt erst fiel mir auf, dass der Geschirrspüler die ganze Zeit leise gurgelte. Es klang genau so, wie sich meine Eingeweide anfühlten. Da plötzlich entdeckte ich ein Foto am Kühlschrank. »Sind das unsere Kinder? So sehen sie aus?« Das Mädchen lächelte offenherzig in die Kamera, während der Junge sich alle Mühe gab, so cool wie möglich dreinzuschauen. Das Erstaunlichste aber war, dass die beiden wie Miniaturausgaben ihrer Eltern aussahen. Dillie sah genau so aus wie ihre Mutter, und Jamie sah genau so aus wie ich.
    »Wow! Sie sind wunderschön«, sagte ich. Sie nickte und trat neben mich.
    »Das war in Frankreich. Dillie ist seitdem ein ganzes Stück gewachsen. James kann es nicht ausstehen, fotografiert zu werden.«
    Es war ein surrealer Moment. Die stolze Mutter zeigte dem Vater ihrer Kinder, wie sie aussahen. Maddy schob die Zungenspitze zwischen die Lippen und hängte das Foto liebevoll an die Kühlschranktür zurück, und ich schwebte im siebten Himmel. Die Leere, die ich seit dem 22. Oktober verspürt hatte, wich einer überwältigenden Gewissheit. Diese winzige Geste, dieses hinreißende Kräuseln ihrer Lippen genügte, um mich schwindlig zu machen, und gab mir zugleich das Gefühl, ein vollwertiger Mensch zu sein, strotzend vor Kraft, Energie und – endlich – Leben.
    »Wunderschön«, wiederholte ich.

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