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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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teilweise durch die Tatsache untergraben wurde, dass seine Stirn bedeutend länger war als seine Beine.
    »Kommt ganz darauf an, was das Gehirn mit den eingehenden Informationen anstellt. Vielleicht sehen wir einfach alles so, wie wir es sehen wollen.«
    Im Spiegel sah ich, wie Dillie einen Augenblick über meine Worte nachdachte, bevor sie ihrem verzerrten Vater in die Augen blickte.
    »Dad?«, fragte sie. »Hast du mich und Jamie wirklich total vergessen?«
    »Ähm – nun ja – es ist noch alles hier drin«, sagte ich und schlug mir wie ein Stummfilm-Komiker mit der flachen Hand vor die Stirn, was ein Lächeln auf ihr Gesicht zauberte. »Ich weiß nur nicht mehr genau, wo ich was abgespeichert habe. Deswegen kann ich mich momentan zwar nicht an sämtliche Daten und Fakten erinnern, aber ich habe nicht vergessen, was ich für euch empfinde.« Es war bewegend, diese bedeutungsschwangeren Worte auszusprechen. »Ich habe nicht vergessen … wie lieb ich euch habe.«
    »Aaaah«, machte sie und sah mich ganz ergriffen an, während ich im Spiegel beobachtete, wie Jamie sich den Finger in den Rachen schob.
    Die einzigen anderen Besucher waren ein ungeheuer dickes Pärchen, das vermutlich nur hierhergekommen war, um sich noch einmal schlank zu sehen. Die beiden gingen langsam von Spiegel zu Spiegel, wortlos und ohne eine Miene zu verziehen, geschweige denn über ihren kuriosen Anblick zu lachen. Ganz im Gegensatz zu Jamie und Dillie, die in einem fort hin und her rannten und selbst die Leute draußen vor dem Zelt mit ihrem Gelächter ansteckten. Ich wandte den Blick von meinem verzerrten Spiegelbild und hatte nur noch Augen für meinen neuen Sohn und meine neue Tochter. Sie waren voller Enthusiasmus und Energie, lebten nur für den Augenblick, neugierig auf alles, was die Welt ihnen zu bieten hatte. Sie gaben mir das Gefühl, dass der Verlust meiner Vergangenheit nicht die geringste Rolle spielte; das Einzige, worauf es ankam, war das Hier und Jetzt.
    »Dad, du hast zwei Köpfe.«
    »Gott, das ist ja furchtbar. Wie peinlich.«
    »Argh – guck mal, was mit meinem Körper passiert ist!«, kreischte Jamie.
    »Das sage ich auch jeden Morgen, wenn ich vor dem Spiegel stehe.«
    »So ’n Quatsch, Dad«, meinte Dillie. »Für jemanden, der so uralt ist wie du, hast du dich ziemlich gut gehalten.«
    Und tatsächlich fühlte ich mich heute zehn Jahre jünger. Der Optimismus und die geballte Energie der Kinder waren ansteckend, und obwohl ich an die Zeit vor meinem Gedächtnisverlust noch immer keinerlei Erinnerung hatte, spürte ich, was es bedeutete, Vater zu sein. Mit einem Anflug von Traurigkeit wurde mir klar, dass es niemanden gab, dem ich die freudige Mitteilung machen konnte, dass diese Kinder soeben in mein Leben getreten waren. »Mum! Dad! Es ist ein Junge! 63 150 Gramm! Wir haben ihn Jamie genannt, und er hat blaue Augen, jede Menge Haare und isst schon jetzt für drei. Hauptsächlich Zuckerwatte. Ach, und wisst ihr was? Maddy hat auch noch ein Mädchen bekommen! Ja, Dillie – etwas kleiner als ihr Bruder, aber sie kann schon laufen und sprechen. Sie redet wie ein Wasserfall.«
    »Dad, können wir jetzt mit der Berg-und-Talbahn?«
    »Na klar, können wir.«
    Die Kinder sahen mich zweifelnd an und erklärten mir, dass mir auf solchen Karussells früher immer schlecht geworden sei.
    »Im Ernst? Nee, das war der alte Dad. Genau das wollte ich vorher sagen, als ich über unser Gehirn und vorgefasste Ideen und so weiter gesprochen habe. Vielleicht ist mir in der Berg-und-Talbahn nur schlecht geworden, weil mein Kopf meinem Körper gesagt hat, dass mir davon schlecht wird. Diese Erwartung ist jetzt gelöscht, und die Fahrt macht mir bestimmt einen Heidenspaß.«
    Fünf Minuten später kam ich aus der Berg-und-Talbahn getorkelt und kotzte hinter einen Generator.
    »Alles in Ordnung, Dad?«
    »Brauchst du ein Taschentuch?«
    Ich übergab mich ein zweites Mal, setzte mich auf die Anhängerkupplung und stützte den Kopf in die Hände. Die Sirenen und die blitzenden Lichter verstärkten die Übelkeit noch.
    »Soll ich dir eine Flasche Wasser holen?«
    »Nein, schon gut. Tut mir leid«, stieß ich ächzend hervor. »Es geht gleich wieder.«
    Als wir im Pizza Express ankamen, erwartete Maddy uns bereits. Sie lachte, als sie ihre beiden Kinder sah; zur Feier des Tages hatten sie ihre Hände und Gesichter aufwendig mit Zuckerwatte dekoriert. Ich interpretierte Maddys Reaktion als ein Signal der Zustimmung. Sie hätte schließlich

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