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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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Getreidezölle im 19 . Jahrhundert , kapiert ?«
    »Oooouh!«, machte Tanika, die sich in ihrem Verdacht bestätigt fühlte. »Kloputzer Vaughan hat sie ja wirklich nicht mehr alle.«
    Nach meiner ersten Stunde in der Jahrgangsstufe 11 sank ich zu Tode erschöpft in meinen Sessel und sann über die niederschmetternde Erkenntnis nach, dass mir die natürliche Autorität zu fehlen schien, die man braucht, um einer Horde renitenter Großstadt-Teenager etwas beizubringen. Jüngere Schüler waren nicht minder respektlos; in gewisser Hinsicht fand ich es sogar noch schlimmer, dieselben Schimpfwörter aus Kindermund zu hören. Insgeheim hatte ich es längst gewusst, doch nun drängte die deprimierende Wahrheit mit Macht an die Oberfläche meines Bewusstseins: Ich war mitnichten der großartige, von allen geliebte Lehrer, für den ich mich in meiner Fantasie gehalten hatte.
    Ich verbrachte die ganze Mittagspause an meinem Schreibtisch. Korrigierte Hausarbeiten, traf Unterrichtsvorbereitungen und rief die Eltern einer bestimmten Schülerin an, um dahinterzukommen, woher das aggressive Verhalten ihres Kindes rührte.
    »Hallo, hier ist Mr. Vaughan, Jodies Geschichtslehrer.«
    »Ach ja, Kloputzer Vaughan … Sind Sie nicht der mit dem Dachschaden?«
    Vielleicht stimmte mich ein Blick in meine Online-Memoiren ja ein wenig positiver. Womöglich hatten sich ehemalige Schüler inzwischen daran erinnert, wie ich ihr Leben und ihre Zukunft mit nur einer Unterrichtsstunde über die Ursachen der Agrarrevolution nachhaltig verändert hatte? Als ich mich einloggte, stellte ich fest, dass in der Tat einige Schüler meine Wikipedia-Seite entdeckt hatten, auch wenn ihre Schilderungen meines Vorlebens die rigorose Genauigkeit, für die »Die freie Enzyklopädie« berühmt ist, schmerzlich vermissen ließen.
    So bezweifelte ich doch sehr, dass ich tatsächlich das sogenannte »fünfte Abba-Mitglied« gewesen war, das auf »Gimme, Gimme, Gimme (A Man After Midnight)« Oboe und Tamburin gespielt und auf »I Do, I Do, I Do, I Do, I Do« Backgroundgesang und rhythmische Klatschgeräusche beigesteuert hatte. Auch las ich mit Interesse, dass ich angeblich drei Jahre an der Seite militanter Islamisten im Zweiten Tschetschenienkrieg gekämpft hatte, während der Belagerung Grosnys 1999 zum Stellvertreter Achmed Sakajews aufgestiegen und dann zur Russischen Föderation übergelaufen war, »weil die Russen schönere Hosen hatten«.
    Nachdem die Oberstufenschüler von diesem offenen Dokument Wind bekommen hatten, war anscheinend ein regelrechter Wettstreit darüber ausgebrochen, wer sich die haarsträubendste Geschichte zu Mr. Vaughans mysteriöser Vergangenheit vor seiner Zeit als Geschichtslehrer an der Wandle Academy ausdenken konnte. Ich erfuhr, dass ich Redaktionsassistent bei einer Zeitschrift namens Camping, Cars & Caravans gewesen und fristlos gekündigt worden war, nachdem ich mir mit dem Chefredakteur einen handfesten Faustkampf geliefert hatte. Angeblich waren wir uns über die Vorzüge des leicht zugänglichen Gasdruckreglers in der Frontwand des neuen Alpine Sprite nicht recht einig geworden. Des Weiteren nahm ich mit Genugtuung zur Kenntnis, dass es mir offenbar gelungen war, das Genom des afrikanischen Riesendachses im Alleingang zu entschlüsseln. Nicht ganz so stolz war ich darauf, dass ich gedroht hatte, mich auf der Vortreppe der Nestlé-Zentrale zu entleiben, sofern der Konzern sich weigerte, die Anzahl der superleckeren grünen dreieckigen Bonbons in einer Dose Quality Street künftig beträchtlich zu erhöhen.
    Ein Blick auf die Versionsgeschichte der Seite verriet mir, dass die neuen Fakten die alten langsam, aber sicher zu verdrängen drohten. »Bei Jack Joseph Neil Vaughan handelt es sich um die ehemalige, berühmt-berüchtigte Nachtclub-Hostess ›Ingrid Fjola Johansdottir‹ aus dem Londoner West End, die trotz ihrer umfassend dokumentierten sexuellen Eskapaden mit Ostblockdiplomaten zu Zeiten des Kalten Krieges zunehmend das Gefühl hatte, im falschen Körper geboren worden zu sein. Da der Fall der Berliner Mauer es der ›isländischen Mata Hari‹, wie sie der MI5 zu nennen pflegte, dauerhaft unmöglich machte, mittels sexueller Gefälligkeiten kommunistische Militärgeheimnisse zu erpressen, beschloss sie, sich einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen und als Geschichtslehrer an einer Südlondoner Gesamtschule ein neues Leben zu beginnen.«
    Ich spielte mit dem Gedanken, die Wikipedia-Seite vom Netz zu nehmen, doch der

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