Der Mann, der seine Frau vergaß
Pädagoge in mir gelangte zu dem Schluss, dass sie den Schülern einen nützlichen Tummelplatz bot, auf dem sie ihre Kreativität und literarische Experimentierfreude entlang der unscharfen Grenze zwischen Fakten und Fiktion ausleben konnten. Einige der ursprünglichen Angaben zu meiner Person, die ich selbst eingestellt hatte, standen nun gleichberechtigt neben den bizarren Hirngespinsten meiner Schüler, mit dem Resultat, dass alles, was ich geschrieben hatte, ebenfalls erfunden wirkte.
Dr. Lewington hatte mich gebeten, sämtliche wiedererlangten Erinnerungen Revue passieren zu lassen und mir zu überlegen, welche bedeutenden Ereignisse meines Lebens sich meinem Zugriff nach wie vor entzogen. Und so erschien ich zu meiner nächsten Computertomografie mit einem ganzen Bündel von Episoden aus meiner ruhmreichen Vergangenheit – glückliche Erinnerungen wie die an mein erstes Tor bei einem Mittelstufenfußballspiel und traurige Erinnerungen wie die an den beschämenden Moment, als ich erfuhr, dass die Mannschaften in der Halbzeitpause die Seiten gewechselt hatten. Ich sollte mich auf diese Augenblicke konzentrieren, und dann wurde gemessen, inwieweit sich meine Hirnaktivität veränderte, wenn ich versuchte, mich an die fehlenden Kapitel zu erinnern.
Der neue Computertomograf sah aus, als habe er einen Großteil des Gesundheitsetats des abgelaufenen Geschäftsjahres verschlungen. Es war ein riesiger, weiß schimmernder Hightech-Apparat, etwa so groß wie Apollo 13. Mit einem leisen Surren glitt ich in die Röhre, dann war mein Schädel in Position gebracht, und die Kartierung konnte beginnen. Bei der Vorstellung, dass eine Frau mir ins Gehirn schauen konnte, war mir nicht ganz wohl. »Jetzt bloß nicht an Sex denken«, sagte ich mir, und schon hatte ich nichts anderes mehr im Kopf. Ob das auf dem Monitor zu sehen war? Konnte sie frühere Gedanken durchforsten und den Komposthaufen meiner Fantasie umgraben? Trotz des lauten Brummens der Maschine hörte ich, wie Dr. Lewington Anweisungen in ihr Mikrofon sprach, und so bemühte ich mich artig, eine möglichst bedeutende Erinnerung heraufzubeschwören.
Wir befinden uns im denkwürdigen Sommer des Jahres 1997, und in der Presse dreht sich alles um den frischgebackenen jungen Premierminister, der dem Papst in puncto Unfehlbarkeit nur wenig nachsteht, sowie die unvermeidliche Prinzessin Di und ihren halbseidenen neuen Galan. Nervös und verlegen stehe ich in meinem eigens für diesen Anlass erworbenen Anzug vor dem nicht ganz unumstrittenen, weil profanen Schauplatz unserer Trauung. Madeleine wollte keine traditionelle kirchliche Hochzeit im wallenden weißen Kleid, mit Brautjungfern und einem Organisten, der gelangweilt Bachs Kantate »Weilet tapfer und winket euren Anverwandten« klimpert.
»Sie ist nicht schwanger – sie ist nur kritisch«, erklärt Maddys Mutter diversen schon leicht angejahrten Familienmitgliedern. »Hallo, Joyce. Sieht Madeleine in dem roten Kleid nicht hinreißend aus? Sie wollte nicht in Weiß heiraten. Aber nicht etwa, weil sie schwanger wäre, sondern …«
»Mum, würdest du bitte aufhören, allen zu erzählen, dass ich nicht schwanger bin?«
»Warum – bist du etwa doch …?«
»Nein, aber eine standesamtliche Trauung ist heutzutage ja nun wirklich nichts Besonderes mehr.«
»Ich möchte bloß nicht, dass die Leute denken, die Kirche hätte dich abgewiesen. Oder dass sie das rote Kleid so interpretieren, als wärst du … na, du weißt schon, als wärst du ein gefallenes Mädchen.« Die letzten beiden Worte flüstert sie, als sei es eine Schande, so etwas auch nur zu denken.
»Ein ›gefallenes Mädchen‹? Wo sind wir hier – in einem Schinken von Thomas Hardy? Wir leben in den Neunzigern, Mum. Da spielt es keine Rolle mehr, ob eine Frau bei ihrer Hochzeit schwanger ist!«
»Ach, du bist schwanger?«, sagt Großtante Brenda. »Na, dann wird es auch langsam Zeit, dass du unter die Haube kommst. Wir wollen schließlich nicht, dass das Baby ein kleiner Bastard wird.«
»Nein, sie ist nicht schwanger, Brenda«, fährt Maddys Mutter etwas übereifrig dazwischen. »Sie ist nur kritisch.«
»Kritisch?«
»Nun ja – sie ist eben nicht besonders traditionsbewusst.«
»Mum, ich bin durchaus traditionsbewusst. Genau darum möchte ich ja … ach, was soll’s.«
»Lass dir davon den Tag nicht verderben, Madeleine«, versucht Tante Brenda sie zu trösten. »Du bist immer noch die Braut, Schätzchen, auch wenn du, ähem …«, setzt sie
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