Der Mann, der sich in Luft auflöste
sagst!«
Schließlich hatte sie mitten im Satz aufgelegt. Er wusste, dass sie sich allmählich beruhigen würde, trotzdem hatte er nicht versucht, noch einmal anzurufen.
Jetzt, in fünftausend Metern Höhe, klappte er die Rückenlehne nach hinten, steckte sich eine Zigarette an und ließ die Gedanken an die Insel und die Familie auf den Grund seines Bewusstseins sinken.
Während des Aufenthalts in Schönefeld trank er in der Transithalle ein Bier. Er stellte fest, dass das Bier »Radeberger« hieß und ausgezeichnet schmeckte, aber er wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass er noch Grund haben würde, sich diesen Namen zu merken. Der Kellner sprach ihn auf Berlinerisch an. Er verstand nicht sonderlich viel und fragte sich besorgt, wie das weitergehen würde.
In einem Korb am Eingang lagen ein paar Heftchen auf Deutsch, und er nahm wahllos eines heraus, um die Wartezeit mit Lesen zu überbrücken. Außerdem musste er unbedingt sein Deutsch auffrischen.
Die Broschüre war vom deutschen Journalistenverband herausgegeben und handelte vom Springer-Konzern, einem der mächtigsten Zeitung- und Zeitschriftenverlage Westdeutschlands, und von dessen oberstem Boss, Axel Springer, einst einer von Goebbels Journalisten. Sie lieferte Beispiele für die faschistische und friedensbedrohende Politik des Verlags und zitierte einige seiner hochrangigen Mitarbeiter, die ebenfalls eine Nazivergangenheit hatten.
Als sein Flug aufgerufen wurde, stellte Martin Beck fest, dass er ohne irgendwelche Schwierigkeiten fast die gesamte Broschüre gelesen hatte.
Er steckte sie ein und ging an Bord. Nach einer Stunde in der Luft setzte das Flugzeug erneut zu einer Zwischenlandung an. Diesmal in Prag, einer Stadt, die Martin Beck schon immer gern hatte besuchen wollen. Jetzt musste er sich mit einem flüchtigen Blick aus der Luft auf die vielen Türme, Brücken und die Moldau begnügen; der Aufenthalt war zu kurz, als dass es für eine Fahrt in die Stadt gereicht hätte. Sein rothaariger Namensvetter im Außenministerium hatte bedauert, dass die Verbindung zwischen Stockholm und Budapest nicht die schnellste war, aber Martin Beck hatte nichts gegen die Aufenthalte, auch wenn er von Berlin und Prag jeweils nicht mehr als das Flugfeld und die Transithalle zu sehen bekam.
Martin Beck war noch nie in Budapest gewesen, und als das Flugzeug wieder gestartet war, blätterte er ein paar der Prospekte durch, die er vom Referenten des Rothaarigen bekommen hatte. In dem über Ungarns Geographie las er, dass Budapest zwei Millionen Einwohner hatte. Er fragte sich, wie er Alf Matsson finden sollte, falls der es darauf angelegt hatte, in dieser Riesenstadt unterzutauchen.
In Gedanken ging er noch einmal durch, was er über Alf Matsson wusste.
Es war nicht überwältigend viel, und er fragte sich, ob es überhaupt viel mehr zu wissen gab. Er dachte an Kollbergs Kommentar: »Ein selten uninteressanter Mensch.« Warum sollte ein Mann wie Alf Matsson verschwinden wollen? Wenn er denn aus freien Stücken verschwunden war. Steckte vielleicht eine Frau dahinter? Höchst unwahrscheinlich, dass er einen gut dotierten Arbeitsplatz, auf dem er sich außerdem offensichtlich wohl fühlte, aus diesem Grund opferte. Er war zwar immer noch verheiratet, konnte aber tun und lassen, was er wollte. Er hatte eine Wohnung, Arbeit, Geld und Freunde. Es war schwierig, einen plausiblen Grund zu finden, weshalb er das alles freiwillig aufgeben sollte.
Martin Beck holte die Kopie der Personalakte hervor, die der Staatsschutz angelegt hatte. Für die Polizei interessant geworden war Alf Matsson allein wegen seiner vielen und dicht aufeinanderfolgenden Reisen in die Ostblockstaaten. »Hinter den Eisernen Vorhang«, hatte der Rothaarige gesagt. Der Mann war schließlich Reporter, und wenn er es vorzog, seine Reportagereisen in die Ostblockstaaten zu verlegen, war das an und für sich nichts Verdächtiges. Und falls er tatsächlich etwas auf dem Kerbholz hatte, warum sollte er dann verschwinden? Der Staatsschutz hatte den Fall nach einer routinemäßigen Untersuchung zu den Akten gelegt. »Eine neue Wallenberg-Affäre«, hatte der Mann im Außenministerium gesagt, und das bedeutete: von den Kommunisten aus dem Weg geräumt. »Sie sehen zu viele James-Bond-Filme«, hätte Kollberg gesagt, wenn er dabei gewesen wäre.
Martin Beck faltete die Kopie zusammen und steckte sie in seine Aktentasche. Er schaute aus dem Fenster. Es war jetzt völlig dunkel, aber sternenklar, und tief unten
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