Der Mann, der sich in Luft auflöste
Schein. In der Ferne waren Lichter zu sehen, und es dauerte eine Weile, bis er erkannte, dass zwischen ihm und diesen Lichtern der Fluss dahinströmte.
Er öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Unten war eine steinerne Balustrade mit Blumenkübeln, und innerhalb der Balustrade standen Tische und Stühle. Uber die Terrasse ergoss sich Licht, und er hörte eine Musikkapelle einen Straußwalzer spielen. Zwischen dem Hotel und dem Fluss waren eine Straße mit Bäumen, Gaslaternen, Straßenbahnschienen und ein breiter Kai mit Bänken und Blumenkübeln. Zwei Brücken spannten sich rechts und links von ihm über den Fluss. Er ließ das Fenster offen und ging hinunter, um etwas zu essen. Durch die Glastür in der Halle gelangte er in eine Lobby mit tiefen Sesseln, niedrigen Tischen und Spiegeln an der einen Längswand. Einige Stufen führten nach oben zum Restaurant, und ganz hinten saß die Musikkapelle, die er in seinem Zimmer gehört hatte.
Das Restaurant war riesig und hatte zwei große Mahagonisäulen und eine Empore, die sich hoch unter der Decke an drei Wänden entlangzog. Drei Kellner in rotbraunen Jacken mit schwarzem Revers standen an der Tür.
Sie verneigten sich und grüßten im Chor, während ein vierter herbeieilte und ihn zu einem Tisch in der Nähe des Fensters und der Kapelle führte.
Martin Beck starrte lange in die Speisekarte, bevor er die Spalte mit dem deutschen Text fand und zu lesen begann. Nach einer Weile beugte sich der grauhaarige Kellner, der ein freundliches Boxergesicht hatte, zu ihm herunter und sagte:
»Very gut Fischsuppe, Gentleman.«
Martin Beck entschied sich sofort für die Fischsuppe.
»Barack?«, fragte der Kellner.
»Was ist das?«, erkundigte sich Martin Beck zuerst auf Deutsch und dann auf Englisch.
»Very gut Aperitif«, sagte der Kellner.
Martin Beck trank den Aperitif mit Namen Barack. Barack Palinka, erklärte der Kellner, sei ungarischer Aprikosenschnaps.
Er aß die Fischsuppe, die rot und paprikascharf und wirklich sehr gut war.
Er aß Kalbsfilet mit Kartoffeln in scharfer Paprikasauce und trank tschechisches Bier.
Nachdem er noch starken Kaffee und einen weiteren Barack getrunken hatte, fühlte er die nötige Bettschwere und ging geradewegs auf sein Zimmer.
Er schloss das Fenster und die Läden und schlüpfte ins Bett. Es knarrte.
Es knarrt freundlich, dachte er und schlief ein.
Martin Beck wurde von einem heiseren, langgezogenen Tuten geweckt.
Während er sich blinzelnd im Halbdunkel zu orientieren versuchte, wiederholte sich das Tuten noch zweimal. Martin Beck drehte sich auf die Seite und griff nach seiner Armbanduhr auf dem Nachttisch. Es war bereits zehn vor neun. Das große Bett knarrte feierlich. Vielleicht, dachte er, hatte es unter Conrad von Hötzendorf ebenso majestätisch geknarrt.
Das Tageslicht sickerte durch die hohen Fensterläden. Es war schon sehr warm im Zimmer.
Er stand auf, ging ins Bad und hustete eine Weile, wie fast immer morgens. Er trank einen Schluck Mineralwasser, zog den Morgenrock an, schlug die Läden auf und öffnete das Fenster. Der Kontrast zwischen dem Dämmerlicht im Zimmer und dem klaren, grellen Sonnenlicht draußen war geradezu überwältigend. Ebenso die Aussicht.
Die Donau floss ruhig und stetig von Nord nach Süd, nicht sonderlich blau, aber breit und mächtig und zweifellos sehr schön. Am gegenüberliegenden Ufer erhoben sich zwei sanft gewellte Berge, die von einem Monument und einer ummauerten Burg gekrönt waren. Die Wohnbebauung kletterte nur zögerlich die Bergflanken hinauf, doch die weiter entfernten blauen Berge waren mit Häusern übersät. Das war also die berühmte Buda Seite, dort war man dem Herzen der mittel-europäischen Kultur sehr nahe. Martin Beck ließ den Blick über das großartige Panorama gleiten und lauschte zerstreut dem Flügelschlag der Geschichte. Dort hatten die Römer ihr mächtiges Aquincum gegründet, von dort hatte die Artillerie der Habsburger im Freiheitskrieg von 1849 Pest in Schutt und Asche gelegt, und dort hatten sich im Spätwinter 1945 Szälasis Faschisten und Guerillageneral Pfeffer-Wildenbruchs SS-Truppen mit sinnlosem, zerstörerischem Heroismus einen ganzen Monat lang gehalten, wovon alte Pfeilkreuzler, die er in Schweden kennengelernt hatte, noch immer voller Stolz sprachen.
Gleich unten am Kai lag ein weißer Raddampfer mit der blau-weißroten tschechischen Flagge, die in der Hitze schlaff herunterhing, und Touristen an Deck, die sich in Liegestühlen sonnten.
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