Der Mann, der sich in Luft auflöste
Was ihn geweckt hatte, war ein jugoslawischer Radschlepper, der sich langsam flussaufwärts arbeitete. Er war groß und alt, hatte zwei hohe, asymmetrisch geneigte Schornsteine und zog sechs tief im Wasser liegende Kähne. Auf dem letzten Kahn war vom Ruderhaus zum kurzen Ladekran eine Leine zwischen den Luken gespannt. Eine junge Frau im Blaumann und mit Kopftuch nahm, von der Schönheit der Ufer unberührt, in aller Ruhe Kinderwäsche aus einem Korb und hängte sie ordentlich auf. Linker Hand spannte sich leicht, luftig und zierlich ein Brückenbogen, der direkt zu dem Berg mit dem Monument zu führen schien, einer hochgewachsenen, schlanken Frau aus Bronze, die einen Palmwedel über den Kopf hielt. Auf der Brücke wimmelte es von Autos, Bussen, Straßenbahnen und Fußgängern. Rechter Hand, in Richtung Norden, hatte der Schlepper die nächste Brücke erreicht; er stieß erneut drei heisere Pfiffe aus, um anzuzeigen, wie viele Kähne er zog, legte den einen Schornstein zum Bug und den anderen zum Heck um und glitt unter dem niedrigen Brückenbogen hindurch. Direkt vor Martin Becks Fenster steuerte ein winziger Dampfer auf das Ufer zu, trieb fünfzig Meter querschiffs mit dem Strom und beendete das Manöver, indem er millimetergenau an einem Ponton anlegte. Eine ungeheure Menge Menschen stieg an Land, und genauso viele gingen an Bord.
6
Die Luft war trocken und warm, und die Sonne stand hoch. Martin Beck lehnte sich aus dem Fenster, ließ den Blick von Nord nach Süd schweifen und erinnerte sich, was er während des Fluges in einer der Broschüren gelesen hatte: »Budapest ist die Hauptstadt der ungarischen Volksrepublik. 1873 gilt als Gründungsjahr, damals wurden die drei Städte Buda, Pest und Öbuda zu einer Stadt vereint. Ausgrabungen haben jedoch tausend Jahre alte Siedlungen freigelegt, und Aquincum, die Hauptstadt der römischen Provinz Pannonien, lag an dieser Stelle. Heute hat die Stadt an die zwei Millionen Einwohner und ist in dreiundzwanzig Bezirke eingeteilt.« Es handelte sich zweifellos um eine sehr große Stadt.
Er erinnerte sich an den fast schon klassischen Ausspruch des legendären Gustaf Lidberg, als dieser im Jahre 1899 auf der Jagd nach dem Geldfälscher Skog in New York an Land ging: »In diesem Ameisenhaufen lebt ein Herr Wer, Adresse Wo?« Nun, New York war zwar schon damals größer als diese Stadt hier, aber andererseits verfügte Meisterdetektiv Lidberg über unbegrenzt viel Zeit. Er dagegen hatte nur eine Woche.
Martin Beck überließ die Geschichte und den Schiffsverkehr ihrem jeweiligen Schicksal und ging unter die Dusche. Er zog eine leichte hellgraue Hose, ein Freizeithemd und Sandalen an. Während er seine unkonventionelle Dienstkleidung im Spiegel des gewaltigen Kleiderschranks musterte, öffneten sich plötzlich, wie in einem frühen Arne-Mattsson-Film, langsam und schicksalsträchtig und mit schauerlichem Geknarze die Mahagonitüren. Er hatte seinen Herzschlag noch nicht wieder unter Kontrolle, als mit kurzen, giftigen kleinen Signalen das Telefon klingelte.
»Hier ist ein Herr, der nach Ihnen fragt. Er wartet im Foyer. Ein schwedischer Herr.«
»Ist es Mr. Matsson?«
»Ja, bestimmt«, sagte die junge Frau an der Rezeption fröhlich.
Natürlich ist er es, dachte Martin Beck auf der Treppe. Es wäre jedenfalls ein absolut würdiger Abschluss dieses seltsamen Auftrags.
Aber es war nicht Alf Matsson, sondern ein junger Mann von der Botschaft, äußerst korrekt mit dunklem Anzug, schwarzen Halbschuhen, weißem Hemd und hellgrauer Seidenkrawatte bekleidet. Der Blick des Mannes glitt über Martin Beck. Eine Spur von Verwunderung lag darin, aber wirklich nur eine Spur.
»Wie Sie sicherlich wissen, kennen wir die Art Ihres Auftrags.
Wir sollten uns vielleicht über die Sache unterhalten.«
Sie setzten sich in die Lobby und unterhielten sich über die Sache.
»Es gibt bessere Hotels als dieses«, sagte der Mann von der diplomatischen Vertretung.
»Tatsächlich?«
»Ja, modernere. Mit höherem Standard. Swimmingpool.«
»Aha.«
»Der Nachtclub hier ist auch nicht sonderlich lustig.«
»Aha.«
»Reden wir über diesen ... Alf Matsson.«
Der Mann senkte die Stimme und ließ den Blick durch die Lobby wandern, in der sich bis auf einen schlafenden Afrikaner in der entferntesten Ecke niemand aufhielt.
»Ja. Haben Sie etwas von ihm gehört?«
»Nein. Absolut nichts. Das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass er am Abend des 22. Juli über Ferihegy, den hiesigen
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