Der Mann, der wirklich liebte
war überwältigt von ihrer Tapferkeit und wich nicht von ihrer Seite, um ihr die Zeit so erträglich wie möglich zu machen. »Was für Musik möchtest du hören, Liebes?«
Wieder die Buchstabentafel.
Angela wollte Udo Jürgens hören.
»Habt ihr das mitgekriegt, Leute?« Röhrdanz war hellauf begeistert, dass es ihm gelungen war, Angela am Leben zu erhalten und sie zu einem Dialog zu bewegen. »Udo Jürgens ist angesagt!«
Er lief durch die ganze Neurologische Abteilung, riss alle Türen auf und fasste jeden Arzt, jeden Pfleger, jede Schwester, die er erwischen konnte, am Kittelzipfel: »Sie will Udo Jürgens hören! Habt ihr so was da?«
Am nächsten Morgen traute er seinen Ohren nicht: Bereits als er aus dem Aufzug trat, hörte er die samtige Stimme von Udo Jürgens aus Angelas Zimmer schallen. Er eilte zu seiner Frau und sah: Sämtliche Alben, die dieser Sänger je produziert hatte, lagen in Kassettenform auf Angelas Nachttisch!
Alle Schwestern, Ärzte und Pfleger hatten zusammengelegt, um das Gesamtwerk dieses Sängers zu erstehen. Was für eine einmalige, großzügige Geste!
Aus Angelas Augen liefen dann auch wieder Tränen,
die Röhrdanz wegtupfte, während er selbst leise mitsang: »Ich weiß, was ich will, ich will die Leidenschaft, mit der du mich liebst …«
Immer, wenn eine Kassette zu Ende war, drehte derjenige, der gerade im Zimmer war, sie ganz selbstverständlich um oder wechselte sie aus.
Und so verging der lange, graue Herbst, in dem Angela ins Koma gefallen war.
D raußen schneite es bereits in dicken Flocken, die vorweihnachtliche Hektik war längst ausgebrochen und trieb die Menschen eilig durch die belebte Fußgängerzone, wo sie sich mit hochgeklappten Mantelkrägen vor den Schaufenstern drängten und sich Gedanken um Geschenke, Festtagskleider und Weihnachtsbraten machten.
Röhrdanz hatte keine Zeit für solche Dinge. Er funktionierte wie ein Rädchen im Uhrwerk:
Morgens um halb sechs aufstehen, in die Klinik fahren, mit Angela »aufwachen«, ihr gut zureden, Musik auflegen, zeigen, dass er da war. Dann nach Hause rasen, die Kleinen anziehen, zu Helga bringen. Weiter in die Firma, hier einigermaßen funktionieren, Anweisungen geben, Zahlen kontrollieren, Anwesenheit zeigen. Mittags wieder in die Klinik. Dasselbe Spiel. Buchstabentafel: Wie geht es dir heute? Was kann ich für dich tun?
Wieder Firma, dann Kinder von Helga abholen, einkaufen, zu Hause ein halbwegs intaktes Familienleben inszenieren, kochen, essen, spielen, vorlesen, schmusen, die Kleinen ins Bett bringen. Oliver bitten, auf sie aufzupassen,
bis sie schliefen, die Küche aufräumen und pünktlich ins Bett gehen. Wie es Oliver ging, ob er Liebeskummer hatte oder sich allein fühlte … Das alles hatte in seinem Kopf keinen Platz. Oliver schien dafür Verständnis zu haben.
Er funktionierte. Genau wie sein Vater.
Nachts träumte Röhrdanz oft, dass Angela wieder sprechen konnte. Sie sprang aus dem Bett, konnte gehen, laufen, ja tanzen. Er tanzte mit ihr einen Walzer, und sie lachte laut und drehte sich, bis ihr ganz schwindelig wurde. Sie sanken zu Boden, er spürte ihre warme Haut, er streichelte ihren Bauch, er küsste sie. Sie liebten sich im Traum, wild und zärtlich, in den verrücktesten Stellungen. Sie versorgte die Kinder im Traum, spielte mit ihnen, sang ihnen etwas vor und winkte ihm, wenn er ging. Ihr Arm verschwamm vor seinen Augen wie die wehende Gardine, hinter der sie stand … Bis sie sich beim Weckerklingeln in kalte feuchte Luft auflöste.
Das Aufwachen war jedes Mal ein Schock, morgens war sein Kissen oft tränennass. Als Erstes stellte Röhrdanz sich immer vor, er müsste jetzt so liegen bleiben. Er könnte sich nicht bewegen. Nicht rühren. Nicht drehen. Nicht die Decke zurückschlagen. Nicht aufstehen und auf die Toilette gehen. Nicht ins Bad gehen. Nicht die Zähne putzen. Nicht rufen. Er versuchte oft minutenlang, in derselben Stellung im Bett liegen zu bleiben. Nicht zu schlucken, sich nicht zu räuspern. Lebendig begraben zu sein. Immer wenn er am Rande es Wahnsinns war, sprang er auf und rannte ins Bad. Dort schaute Röhrdanz in den Spiegel. Der alte, faltige Mann mit
den blutunterlaufenen, tief verschatteten Augen und den völlig ergrauten Haaren, der ihn da anblickte, erschreckte ihn.
»Sie hält durch, und du hältst auch durch«, sagte er dann zu dem Gesicht, das einmal seines gewesen war. »Was du von ihr verlangst, wirst du ja wohl auch schaffen!« Er zeigte mit der
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