Der Mann, der wirklich liebte
fasste sich kurz.
»Sie meinen, Ihr Mann?«
»Ja.«
»Trauen Sie sich das zu, Herr Röhrdanz? Haben Sie schon mal jemandem eine Spritze gegeben?«
Röhrdanz wollte gerade den Kopf schütteln, als er sah, dass eine der beiden Schwestern, die sich absichtlich hinter den Professor gestellt hatte, heftig mit dem Kopf nickte. Sie machte ihm Zeichen, er solle bejahen.
Aus dem Kopfschütteln wurde ein Kopfnicken. Röhrdanz
wusste kaum, wie ihm geschah. Er kam sich vor wie eine Marionette.
Ihm wurde heiß. Ich und eine Spritze geben, wo ich doch vor den Dingern einen Mordsrespekt habe, dachte er verwirrt.
»Also gut … Wenn Sie sich das zutrauen.« Professor Leyen nickte wohlwollend. »Dann sollen Sie Ihre Angela Heiligabend für ein paar Stunden mit nach Hause nehmen.«
Die Schwester hinter ihm wurde rot und drehte sich schnell um.
Die andere Schwester klatschte triumphierend in die Hände.
»Ja, wie jetzt …«
Röhrdanz schaute verdutzt auf Angela, die reglos auf dem Rücken lag. Wenn sie nicht wie immer an die Decke gestarrt hätte, hätte er schwören können, dass sie ihm verschwörerisch zugrinste.
R ichard, Röhrdanz’ Chef aus der Firma, kannte zum Glück einen Burschen von der Johanniterhilfe, mit dem er immer Skat spielte. Sein Krankenwagen stand für die Hinund Rückfahrt bereit, und Röhrdanz kam um die horrenden Transportkosten herum. Mit vier Mann schleppten sie die arme Angela auf einer Trage in den dritten Stock der Mietwohnung, die sie vor drei Monaten nichtsahnend verlassen hatte, um den Orthopäden aufzusuchen.
Natürlich gingen im Treppenhaus überall die Türen einen Spaltbreit auf, manche genierten sich überhaupt nicht und begafften das Spektakel unverhohlen.
Röhrdanz durchbohrte sie alle mit tödlichen Blicken, während ihm der Schweiß in die Augen rann. Angela konnte keinen Laut von sich geben, aber er ahnte, wie sehr sie bei diesem Transport durchs Treppenhaus litt.
Professor Leyen hatte ihm erklärt, dass der Gleichgewichtssinn bei Gehirnschlag-Patienten nachhaltig gestört ist. Und dass sie einen solchen Transport in etwa so erleben wie die Überquerung einer gähnenden Schlucht.
»Gleich haben wir es, Liebes. Noch eine halbe Etage.«
Wieder drehte die Mannschaft sich zentimeterweise im Treppenhaus, dann schulterten die beiden hinteren Träger ihre Last, während Röhrdanz und Richard, die vorne gingen, die Trage rückwärts die Stufen hinaufbalancierten. Wahrscheinlich schrie Angela innerlich vor Angst. Wahrscheinlich wollte sie vor Panik lieber sterben. Aber sie näherte sich - Zentimeter für Zentimeter - ihren Kindern.
Röhrdanz wusste, dass sie genau das wollte. Zu Hause bei ihren Kindern sein.
Wenn auch nur für genau vier Stunden.
Oben angekommen, legten die vier starken Männer Angela vorsichtig auf ihr Bett. Dort wurde sie sofort an ihre Apparate angeschlossen.
Der Johanniter spritzte ihr das bitter nötige Heparin, das ihr Blut verdünnte. Röhrdanz ließ Helga die Kleinen hereinbringen, die sich sofort zu ihr aufs Bett kuschelten. Philip krabbelte ungestüm darauf herum, Helga musste ihn festhalten, was ihn zu Zornesausbrüchen hinriss. Er wollte bei seiner Mama sein! Denise spürte, dass sie ganz
vorsichtig sein musste, sie schmiegte sich, halb eingeschüchtert, halb dankbar, in ihre Armbeuge.
Röhrdanz lehnte erschöpft im Türrahmen und beobachtete die herzzerreißende Szene.
Angela strömten die Tränen nur so übers Gesicht - sie konnte ihre Kleinen nicht streicheln, nicht küssen, nicht berühren. Und das nach drei Monaten Trennung.
»Mama, warum sagst du nix?«, fragte Denise naiv.
»Mama schläft immer noch. Du weißt doch, sie ist wie Dornröschen!«
»Soll ich sie wachküssen?«, bot Denise an.
Röhrdanz nickte stumm.
Denise bedeckte ihre Mama mit tausend kleinen Kinderküsschen und ließ keine Stelle aus, die sie irgendwie erreichen konnte.
»Bist du sicher, dass das eine gute Entscheidung war?«, flüsterte Helga ihrem Schwiegersohn zu, die das kaum mit ansehen konnte. »Sie leidet doch entsetzlich!« Helga wandte sich ab und rannte in die Küche, um dort ihren Tränen freien Lauf zu lassen.
»Es ist Heiligabend«, sagte Röhrdanz leise. »Und es war ihr größter Wunsch.«
A m ersten Weihnachtstag schlief sich Röhrdanz zum ersten Mal seit Angelas Zusammenbruch richtig aus. Er war völlig erschöpft von Heiligabend. Helga hatte die Kleinen mit zu sich genommen, weil sie so schockiert über die Begegnung mit ihrer Mutter gewesen
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