Der Mann, der wirklich liebte
waren. Und Röhrdanz hatte später am Abend schweren Herzens mit ansehen müssen, wie sie Angela wieder abholten.
Um Mitternacht war er ganz allein in die Christmette gestapft und hatte einfach nur auf ein Zeichen gewartet. Ein Zeichen von Gott.
Ist das richtig, lieber Gott, was ich hier tue? Darf ich meine Frau so leiden lassen? Darf ich meinen Kindern das antun? Wird sie je wieder zu uns zurückkommen? Und wird das Baby gesund auf die Welt kommen? Was ist, wenn es schwerstbehindert sein wird? Wem werde ich das alles zumuten? Wie weit darf ich mich selbst über meine Grenzen hinaus belasten?
Bitte, gib mir ein Zeichen, lieber Gott. Gib mir ein Zeichen.
Als das Telefon klingelte, brauchte er einige Sekunden, um sich zurechtzufinden, so tief hatte er geschlafen. Ausgerechnet heute, am ersten Weihnachtstag, hatte er kein Kind zu versorgen und wollte erst am Nachmittag zu Angela gehen. Sie sollte sich ausruhen von den gestrigen Strapazen.
Vielleicht war es Helga, die ein Problem mit den Kindern hatte?
Oder wollte ihm etwa jemand »Frohe Weinachten« wünschen?
Schlaftrunken nahm er den Hörer ab, das Telefon stand direkt neben seinem Bett auf dem Nachttisch.
»Hallo?«
»Herr Röhrdanz? Professor Leyen am Apparat!«
»O Gott!« Röhrdanz saß sofort senkrecht im Bett, alle Fasern seines Körpers waren bis zum Zerreißen gespannt, und ein eiskalter Schreck durchfuhr ihn.
»Ist was mit Angela?«
»Das kann man wohl sagen! Ihr Zustand hat sich dramatisch verändert. Das hat sicher etwas mit ihrem gestrigen Besuch zu Hause zu tun …«
In seinen Ohren rauschte es plötzlich so stark, dass er kein Wort mehr verstand.
An den Rest des Gesprächs konnte sich Röhrdanz später kaum erinnern. Die Stimme des Arztes war so … anders, sie klang ernst, aber auch bewegt, und Röhrdanz fühlte nur, wie sich sein Magen schmerzhaft zusammenzog und er kaum noch Luft bekam.
»… und deshalb sollten Sie so schnell wie möglich kommen!«
»Bin schon auf dem Weg!« Röhrdanz fuhr panisch in seine Hose, die er einfach über die Pyjamahose zog, warf sich zitternd einen Pullover und eine Jacke über, griff im Gehen noch nach seinem Schal und dem Autoschlüssel und saß zwei Minuten später bereits im Auto.
Lieber Gott, sie hat den gestrigen Besuch nicht gut überstanden. Sie hat die Begegnung mit den Kindern nicht verkraftet. Wir hätten sie nicht nach Hause holen dürfen, das war ein Fehler. Denn erst jetzt hat sie gesehen, wie sehr die Kinder leiden. Sie hat sich selbst im Spiegel gesehen. Sie hat begriffen, welche Folgen ihr Zustand für die ganze Familie hat.
Von Selbstvorwürfen geplagt, rannte er kurz darauf über den Parkplatz und schaute fragend zu ihrem Fenster hinauf. Lebte sie überhaupt noch? Wenn Professor Leyen am ersten Weihnachtstag anrief, war er selbst in die Klinik gerufen worden. Dann war etwas wirklich Schwerwiegendes passiert.
Er stolperte aus dem Aufzug und taumelte den Flur entlang. Die Tür zu Angelas Zimmer stand offen. Er hörte sich keuchen, als er schließlich nassgeschwitzt um die Ecke bog.
Professor Leyen stand mit drei anderen Ärzten und zwei Schwestern an Angelas Bett.
Er sah nur ihre Rücken. Alle schwiegen.
Sie beugten sich über sie.
Angela war tot.
Wie in Zeitlupe drehten sie sich zu ihm herum. Ihre Gesichter waren nicht zu deuten. Überraschung? Trauer? Entsetzen?
»Kommen Sie mal her, Herr Röhrdanz!« Die Stimme von Professor Leyen war verändert, wie vorhin am Telefon. Sie klang viel tiefer als sonst, so als hätte jemand eine Schallplatte mit halber Geschwindigkeit abgespielt.
»Ihre Frau will Ihnen wohl auch ein Weihnachtsgeschenk machen …« Professor Leyen streckte die Hand aus und winkte Röhrdanz herbei. Auf einmal verließ ihn der Mut, weiterzugehen.
Jetzt streckten sich ihm auch andere Hände entgegen, und plötzlich erkannte er, dass die Leute … lächelten! Sie lächelten! War es Stolz, Freude, Triumph, was er in ihren Augen leuchten sah?
»Sie … ist gar nicht tot?«
»Aber nein, Herr Röhrdanz! Ihr gestriger Besuch zu Hause scheint wirklich etwas bewirkt zu haben. Schauen Sie mal!«
Nun beugte sich auch Röhrdanz über die reglose Angela,
die in gewohnter Weise mit offenem Mund an die Decke starrte.
»So, Frau Röhrdanz, nun machen Sie es noch einmal.«
Nichts. Angela rührte sich nicht. Die Ärzte und Schwestern starrten sie an.
»Was soll sie noch mal machen?«, fragte Röhrdanz.
»Schauen Sie mal auf ihre rechte Hand.«
Alle starrten auf ihre
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