Der Mann, der zweimal starb Kommissar Morry
sah ihn im Nebeldunst des anbrechenden Herbsttages verschwinden. Er blickte nicht mehr zurück. Wie ein fremder Schatten zerfloß er hinter der grauen Nebelwand. Was jetzt, dachte Evelyn Bloom entmutigt. Er hat mich eingeschlossen. Er hält mich hier wie eine Sklavin. Ich muß warten, bis er zurückkommt. Und in der kommenden Nacht wird es nicht anders sein als in der vergangenen. Dieser Gedanke ließ ihr keine Ruhe mehr. Sie machte wieder das Fenster auf und beugte sich weit hinaus. Sie schaute hinunter auf die stille Straße.
Wenn ich mich nun einfach fallen ließe, dachte sie verzweifelt. Wie lange dauert es schon, bis man unten aufschlägt. Es sind ein paar entsetzliche Sekunden, aber dann ist Ruhe. Man hat für immer seinen Frieden. Ist das nicht besser, als wenn man vor jedem neuen Tag zittert? Sie schloß die Augen und gab sich einen krampfhaften Ruck. Aber ihre Rechte umklammerte instinktiv das Fensterkreuz. Sie hatte nicht den Mut, ihr Leben auf diese Weise zu beenden. Es mußte einen anderen Ausweg geben. Sie hatte ja noch viele Stunden Zeit, bis Percy Coogan zurückkehrte. Zunächst trieb sie der Hunger an den gedeckten Frühstückstisch. Zerstreut beschmierte sie die Brötchen mit Butter und Honig. Sie aß ein weichgekochtes Ei und eine Portion Ham and Eggs. Der heiße Tee verjagte das Frösteln aus ihren Gliedern. Er gab ihr neue Zuversicht. Es müßte mir doch gelingen, überlegte sie, die Tür aufzusprengen. Vielleicht steht irgendwo ein Werkzeugkasten in der Wohnung. Mit einem Stemmeisen ließe es sich vielleicht machen. Sie suchte über eine Stunde lang. Dann gab sie es auf. Mutlos kehrte sie in das Wohnzimmer zurück, ließ sich auf das Sofa fallen und sann über ihre traurige Lage nach. Mitten in ihre Gedanken hinein läutete es plötzlich. Die Glocke im Flur schlug an. Zweimal lang und einmal kurz. Dann wieder Stille.
Evelyn Bloom sprang hastig vom Diwan auf und lief an die Flurtür hinaus.
„Hallo!“ keuchte sie atemlos. „Wer ist da?“
Draußen vor der Tür war niemand. Also mußte jemand unten am Hausportal geläutet haben. Sie hastete ins Zimmer zurück und riß einen Fensterflügel auf. Sie beugte sich weit hinaus. „Wer ist da?“rief sie mit spitzer Stimme. „Hallo, wer ist da?“
Ihre Stimme verhallte schrill in der engen Straßenschlucht. Niemand antwortete. Sie konnte auch niemand sehen. Der Nebel hing noch immer wie eine schmutzige Gardine vor dem Fenster. Sehwarzer Ruß mischte sich dazwischen. Die Brühe war muffig und schwer wie ein nasser Filz. Evelyn Bloom schloß achselzuckend das Fenster und wanderte dann in der stillen Wohnung auf und ab. Sie kam zu keinem Entschluß. Sie war nahe daran, zu resignieren. Mittags briet sie sich zwei Eier und gegen Abend trank sie wieder Tee und aß ein paar Sandwiches dazu. Dann wanderte sie eine Weile in der Wohnung auf und ab und legte sich schließlich auf das Sofa nieder. Müde schloß sie die Augen. Sie schlief ein. Vier, fünf Stunden bescherte ihr der Schlaf völliges Vergessen. Sie kam erst wieder zu sich, als ein schrilles Läuten durch die Wohnung gellte. Zweimal lang und einmal kurz. Es war genau wie am Vormittag. Vor der Flurtür stand niemand. Und drunten auf der Straße konnte Evelyn Bloom niemand erkennen. Der Nebel hatte sich nicht gelichtet.
Über der großen Stadt breitete sich die Nacht aus. Der Widerschein farbiger Lichtreklamen spielte über den dunklen Himmel. Da und dort waren einige Fenster hell. Sonst nichts als graue Finsternis. Evelyn Bloom blickte auf ihre Uhr. Sie erschrak. Sie mußte stundenlang geschlafen haben. Es war elf Uhr nachts. Mein Gott, dachte sie erschreckt. Percy Coogan kann jeden Moment zurückkommen. Bin ich denn wirklich dazu verdammt, auch in dieser Nacht alle Qualen der Hölle zu erdulden? Sie blickte sich um. Sie machte überall Licht, auch im Flur. Da entdeckte sie plötzlich ein schmales Schlüsselbrett neben der Garderobe. Sie hatte es bisher übersehen, weil Kleidungsstücke darüber hingen. Sie sah verschiedene Schlüssel an den Nägeln. Dazwischen hing ein Sperrhaken.
Evelyn Bloom riß den primitiven Dietrich hastig an sich. Schon eine Sekunde später stand sie an der Tür. Geräuschlos führte sie den Haken in das Schlüsselloch. Nervös hantierte sie am Schloß herum. Sie war so unruhig, daß ihre Finger zitterten. Ihr Herz pochte laut. Minute um Minute verstrich. Der Haken wollte nicht sperren. Anscheinend hatte sie zu wenig Kraft. Das Schloß war alt und verrostet. Es
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