Der Mann, der zweimal starb Kommissar Morry
Schatten. Er sprang in die Tiefe. Man hörte einen dumpfen Aufprall. Im Nu war auch Kommissar Morry am Fenster. Er setzte die Trillerpfeife an die Lippen. Schrill gellte das Signal durch die Nacht. Im Garten wurde es lebendig. Hinter allen Sträuchern wuchsen schattenhafte Gestalten auf. Die ersten Schüsse bellten durch die Dunkelheit. Vier Handscheinwerfer warfen ihre Lichtbündel in die Finsternis. Joseph Hattan hetzte auf das Gartentor zu. Er schlug verzweifelt Haken wie ein gehetztes Wild. Er versuchte, durchzubrechen. Als sei er kugelsicher, so unfehlbar wich er den peitschenden Schüssen aus. Aber schon in den nächsten Sekunden sah er sich hoffnungslos eingekreist. Ein irres Flackern glänzte in seinen Augen. Sein Gesicht war nur noch ein verschwommener weißer Fleck. Die Konstabler hetzten ihn wie sine Meute Hunde. Sie umzingelten ihn und brachten ihn zu Fall. Sie zerrten ihn vom Boden auf und legten ihm die Handschellen an. Inzwischen war auch Kommissar Morry an der Kampfstätte erschienen. Er leuchtete dem unschädlich gemachten Mörder ins Gesicht. Er studierte jeden Zoll dieser teuflischen Visage.
„Wollte mich nur überzeugen, ob Sie’s wirklich sind, Hattan“, brummte er zwischen den Zähnen. „Ich weiß es jetzt. Führt ihn ab, Leute! Diesmal wird kein anderer für ihn zum Galgen gehen. Diesmal ist die Reihe an ihm selbst.“
22
Am nächsten Morgen wurde Kommissar Morry zum Sektionspräsidenten befohlen. Der alte Herr saß hinter seinem riesigen Schreibtisch und blickte erwartungsvoll auf die Tür. Als Morry erschien, erhob er sich höflich. Ein müdes Lächeln huschte über sein zerfurchtes Gesicht.
„Na also“, sagte er trocken. „Dann haben Sie es also doch wieder einmal geschafft, Morry! Ich gratuliere. Nehmen Sie bitte Platz.“
Der Kommissar setzte sich. Er bekam eine gute Zigarre angeboten. Der Präsident reichte ihm sogar Feuer.
„Ist es nun wirklich Joseph Hattan, den Sie fingen?“ fragte er forschend.
„Ja, Sir! Ganz bestimmt.“
„Er ist also tatsächlich damals dem Galgen entronnen?“
„Ja, Sir!“
„Wissen Sie, wie er dieses unglaubliche Kunststück zuwege brachte?“
„Ja, Sir!“
„Wie kamen Sie darauf?“
„Durch eine Tasse Tee, Sir.“
„Wie soll ich das verstehen? Erklären Sie das näher!“
Kommissar Morry begann zu erzählen. „Ich ging damals noch einmal in das Pentonville Gefängnis“, sagte er. „Ich ließ mir von dem Aufseher Spencer Willow den Ablauf der letzten Nacht vor der Hinrichtung schildern. Ich fragte ihn nach jeder Einzelheit. Schließlich wurde mir klar, daß der Mann, der um sechs Uhr abends die Nachricht von seiner Hinrichtung entgegennahm, immer noch der wirkliche Joseph Hattan war. Er verhielt sich ganz so, wie ich es von ihm gewöhnt war. Er lachte dem Beamten frech ins Gesicht.“
„Weiter!“ murmelte der Sektionspräsident ungeduldig. „Zu welchem Zeitpunkt fand dann die unerklärliche Flucht statt?“
Kommissar Morry ging nicht sofort auf diese Frage ein. Er kam wieder auf die mysteriöse Tasse Tee zu sprechen.
„Der Mann, der morgens um vier Uhr die Henkersmahlzeit ablehnte, das war bereits nicht mehr Joseph Hattan“, sprach er langsam weiter. „Er wollte nichts essen. Er betete. Er verlangte nur ein Täßchen Tee. Nun ist mir aber bekannt, daß Joseph Hattan gerade den Tee sein ganzes Leben lang verabscheute. Er hat davon nie einen Tropfen über die Lippen gebracht. Lieber hätte er dann noch Wasser getrunken. In der Zeit zwischen sechs Uhr abends und vier Uhr früh muß Joseph Hattan also geflüchtet sein. Allein hätte er diese Flucht nie bewerkstelligen können. Es mußte ihm also jemand dabei geholfen haben. Wer war das? Es hatten nur zwei Personen während der ganzen Nacht die Zelle betreten: Der Arzt und der Priester. Von diesen beiden Männern war einer der Helfer. Der Arzt schied aus. Ich sprach noch am gleichen Tag mit ihm. Blieb also der andere. Ich erfuhr, daß er sich Pater Frederic genannt hatte. Seit seinem Besuch in der Zelle war seine Spur ausgelöscht.“
„Dann ist also“, stotterte der Sektionspräsident ungläubig, „jener Priester für Joseph Hattan zum Galgen gegangen?“
„Ja“, sagte Kommissar Morry. „Es war sein Bruder. Am gleichen Tage und zur gleichen Stunde wie Joseph Hattan geboren. Von derselben Mutter innerhalb der gleichen Familie. Und doch, welch ein Unterschied zwischen diesen beiden Zwillingssöhnen. Der eine wurde ein Priester, der andere ein
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