Der Mann, der zweimal starb Kommissar Morry
spürte noch im gleichen Moment eine erdrückende Last auf ihrer Brust. Ihr Atem stockte. Vergeblich rang sie nach Luft. Wie mordgierige Klauen legten sich die Finger eines Teufels um ihre Kehle. Ihr Bewußtsein verdämmerte. Hilflos und in bleierner Ohnmacht wartete sie auf den Tod. Doch dann geschah das Wunder, daß sie noch einmal aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachte. Halb irrsinnig vor Verzweiflung schrie sie ihre Angst hinein in die Finsternis. Es waren gellende, unnatürlich schrille Schreie. Sie brachen sich hohl an dem nackten Gemäuer. Und trotzdem konnten diese Hilferufe Evelyn Bloom nicht mehr retten. Sie hatte ihre Qualen nur verlängert. Der Tod stand schon mit offenen Armen in nächster Nähe. Er nahm sie lautlos in Empfang. Er führte sie auf schwarzen Schwingen in das endlose Nichts.
7
Bis elf Uhr saß Jack Potter an seinem , Stammtisch in der Sidney Bar. Sie waren alle noch um ihn versammelt: Percy Coogan und Nicol Trapp, Clift Murray und die anderen.
„Was ist?“ fragte Clift Murray spöttisch, als sie wieder einmal ihre Gläser geleert hatten. „Willst du nicht nach Hause gehen, Percy? Ich dachte, du hättest jetzt eine neue Freundin? Wenn du sie schon in der zweiten Nacht so lange warten läßt, wird sie . . .“
„Schnauze!“ zischte Percy Coogan erbost. „Über diesen Punkt liebe ich keine Witze, kapiert? Ich gehe heim, wann es mir paßt. Dabei bleibt es.“
„Dann mache ich den ersten“, brummte Jack Potter gähnend. „Mich können eure dämlichen Gesichter nicht länger reizen. Gehabt euch wohl, Boys! Bis morgen Abend!“
Er richtete seinen breiten Buckel auf und stapfte wie ein Bär auf den Ausgang zu. Sein, grobes Bullengesicht wirkte müde und schläfrig. „Gute Nacht, Jack!“ rief ihm die Bedienung nach. „Würde mich freuen, wenn du morgen wieder kommst. Wegen der Bezahlung, meine ich. Du hast mehr Schulden als . . .“
„Laß mich zufrieden“, murrte Jack Potter mißmutig und warf die Tür hinter sich zu. Er schlug seinen Kragen hoch, schob die Mütze in die Stirn und machte sich auf den Heimweg.
Er hatte nicht weit zu gehen. Seine armselige Bude lag gleich in der Nachbarschaft. Wenn er sich beeilte, konnte er schon in fünf Minuten auf seiner Klappe liegen.
Gebeugt kämpfte er gegen den Wind an. Kalter Regen sprühte ihm ins Gesicht. Immer wieder mußte er sich die Augen reiben, um die Straße nicht zu verfehlen.
Dann wurde er plötzlich aufgehalten. Vor einem Neubau, um dessen nackte Mauern noch die Gerüste liefen, trat ein Mann auf ihn zu. Ein Feuerzeug flackerte auf. Es erlosch gleich wieder. Trotzdem hatte das winzige Licht genügt, um Jack Potter den Fremden erkennen zu lassen. Es war ein biederer Obsthändler aus der Nachbarschaft. Er hieß Francis Miller. Er wirkte merkwürdig aufgeregt.
„Guten Abend, Mr. Potter“, murmelte er hastig. „Gut, daß ich Sie treffe. Allein hätte ich mich nicht in dieses Haus gewagt.“
Jack Potter äugte verwundert auf den Rohbau. „Was wollen Sie denn da?“ fragte er erstaunt. „Hier gibt es doch nichts zu holen. Warten Sie doch ab, bis die Türklinken und Wasserhähne geliefert sind. Dann lohnt es sich eher.“
„Sie verkennen mich, Mr. Potter“, hüstelte der andere beklommen. „Ich habe noch nie etwas gestohlen. Ich werde auch in Zukunft keine Unrechten Dinge tun.“
„Was wollen Sie dann hier?“ fragte Jack Potter zum zweitenmal.
„Ich hörte Hilferufe“, stammelte Francis Miller erregt. „Wenn ich nicht irre, kamen diese Rufe aus dem Neubau. Vielleicht hat man eine Frau überfallen. Oder einen Betrunkenen, der ahnungslos in die Falle ging.“
„Sie werden geträumt haben“, brummelte Jack Potter ärgerlich. „Man hört doch nichts. Spitzen Sie Ihre Ohren! Hier rührt sich keine Maus.“
„Haben Sie eine Taschenlampe bei sich?“ fragte der Obsthändler ungeduldig.
„Eine Lampe habe ich immer“, knurrte Jack Potter mundfaul. „So ein Ding gehört zu meinem Beruf.“
„Gut, dann kommen Sie mit“, drängte Francis Miller. „Ich möchte nicht unverrichteter Dinge heimgehen. Die Schreie hörten sich an, als sei ein Mensch in höchster Todesnot. Vielleicht können wir noch helfen.“
Jack Potter nahm brummig seine Lampe aus der Tasche und ging über die schwankenden Bretter in das feuchte Gemäuer hinein. Er trat auf Sand und harten Mörtel. Links und rechts zogen sich die roten Backsteinwände hin. Durch die offenen Fensterhöhlen wehte ein eiskalter Wind. Tänzelnd huschte der
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