Der Mann, der zweimal starb Kommissar Morry
leistete hartnäckigen Widerstand. Evelyn Bloom fühlte, wie ihr der Schweiß aus allen Poren brach. Ihr Atem ging pfeifend und erschöpft. Sie achtete nicht darauf. Es muß gelingen, dachte sie nur. Es ist meine letzte Chance. Und dann erlebte sie wirklich den Triumph, daß ein leises Klicken ertönte. Die Tür sprang auf. Vom Treppenhaus wehte kalte Zugluft herein.
„Gott sei Dank!“ stieß Evelyn Bloom erlöst hervor. Sie zog in fieberhafter Eile ihren Mantel an und nahm ihre Handtasche an sich. Dann jagte sie mit stürmischen Sätzen die Treppe hinunter. Drunten, vor der Tür, wäre sie fast mit einem Mann zusammengeprallt. Sie stieß ihn einfach zur Seite. Verstört rannte sie in entgegengesetzter Richtung davon. Ihr Weg führte am Hoxton Gate vorbei. Zur Linken lag die hellerleuchtete Sidney Bar. Das Kreischen des Musikautomaten klang laut auf die Straße. Evelyn Bloom ging langsamer. Schließlich stockten ihre Schritte. Sie wußte einfach nicht mehr, wohin sie sich wenden sollte. Rechts zog sich der Hoxton Canal hin. Dahinter war das Wenlock Basin, hinter ihr die Straße, in der Percy Coogan wohnte. Blieb also nur noch der Weg nach Norden frei. Ich werde mit der U-Bahn zum Hafen fahren, überlegte Evelyn Bloom. Dort gibt es die meisten Asyle. Für eine Nacht wird man mich gern beherbergen. Und morgen, am hellen Tag, läßt sich sicher etwas anderes finden. Sie ging langsam weiter. Bis jetzt war es völlig still hinter ihr gewesen. Aber nun erklangen plötzlich Atemzüge in ihrem Rücken. Die verstohlenen Schritte waren kaum zu hören. Evelyn Bloom blickte sich entsetzt um. Sie glaubte den Mann wiederzuerkennen, den sie bei ihrer Flucht aus dem Haus beinahe umgerannt hätte. Er trug einen Trenchcoat mit Pelzkragen und einen Hut mit auffallend breiter Krempe. Das auffälligste an ihm waren glänzende Schaftstiefel.
Joseph, dachte Evelyn Bloom in panischem Erschrecken. Mein Gott, wäre es möglich, daß es Joseph ist . . .?
Ihre Haare sträubten sich vor Grauen. Sie lief davon, als sei der Teufel plötzlich hinter ihr her. Da sie wußte, daß sie das irrsinnige Tempo nicht lange durchhalten konnte, spähte sie verzweifelt nach einem Versteck aus. Sie hatte Pech. Nirgends eine Bretterwand, nirgends eine Ruine. Die Häuser zogen sich in glatter Reihe hin. Alle Türen waren versperrt, alle Fenster dunkel. Aber dann entdeckte Evelyn Bloom plötzlich einen Neubau, um dessen nackte Mauern ein hohes Gerüst lief. Drei, vier Bretter führten durch die grobgemauerte Tür ins Innere. Finsternis und feuchte Kälte breitete sich zwischen den roten Backsteinwänden aus. Evelyn Bloom trat auf harten Mörtel und Sand. Sie fand sich in der Finsternis kaum zurecht. Ängstlich duckte sie sich hinter einer Ziegelwand. Sie wartete und lauschte. Die Einsamkeit machte sie fast verrückt. Sie glaubte überall Geräusche zu hören. Durch das Dunkel sah sie gespenstische Schatten huschen, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. Wie konnte ich nur hier hereinlaufen, dachte sie verstört. Es war völlig verkehrt. Hier kann mir doch nie jemand zu Hilfe kommen. Hier bin ich ganz allein. Man würde mich nicht einmal schreien hören. Ihre Gedanken rissen ruckartig ab. Sie hörte Schritte auf der Straße. Schritte, die erst vorübergingen und dann wieder umkehrten. Ein leises Ächzen der Bretter, die in das aufgerichtete Haus führten. Ein rascher Atem ganz in der Nähe. Ein leises Räuspern. Ein dumpfes Scharren, als striche jemand die Backsteinwände entlang. Ein dünner Lichtstrahl griff in das Dunkel. Er zerteilte jäh die Finsternis, scharf wie ein Messer.
Evelyn Bloom duckte sich noch tiefer hinter der Kaminmauer zusammen. Ihr Gesicht war weiß wie ein Tuch. Die Angst lähmte ihr Denken. Am liebsten hätte sie sich in den Erdboden verkrochen. Hier gibt es keine Möglichkeit mehr zur Flucht, dachte sie gemartert. Ich habe mich selbst und freiwillig in diesen Käfig begeben. Warum bin ich nicht zum nächsten Polizeirevier gelaufen? Warum habe ich nicht die Richtung zum Hoxton Bahnhof eingeschlagen? Sie blickte entsetzt auf. Ein dünnes Strahlenbündel huschte über ihr Gesicht. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann wurde es wieder dunkel. Evelyn Bloom wollte sich zur Flucht wenden. Sie streckte die Hände vor, machte einen scheuen Bogen und wollte so den Ausgang erreichen.
Aber ihr Weg war schon nach drei Schritten zu Ende. Sie lief ihrem Mörder geradewegs in die Arme. Sie wurde von brutalen Fäusten zu Boden gerissen und
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