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Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Titel: Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sloan Wilson
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vorlesen. Er steckte die Hand in die Tasche, zog den Brief von Maria heraus und sah sich vielleicht zum hundertsten Mal das Foto an. Da war das Kind, großäugig, ernst, mit dieser jämmerlichen, grotesken Vornehmheit gekleidet, und starrte ihn feierlich an, ganz wie der »Senator« als kleiner Junge. Neben ihrem Sohn stand eine stolze und heitere Maria. Er steckte Foto und Brief wieder in den Umschlag und schob ihn in die Tasche.
    Ungefähr eine Viertelstunde später kam Betsy herein. Sie war blass und erschien ihm fast so zerbrechlich wie als Mädchen. Da merkte er, dass er sie verängstigt hatte. Mit höflicher Unbeholfenheit stand er auf und sagte: »Du sollst keine Angst haben«, und merkte sogleich, dass er sie mit diesen Worten wohl kaum beruhigen konnte.
    »Warum bist du denn so rätselhaft?«
    »Ich weiß nicht, ob ich mit dir darüber sprechen soll. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Es ist nicht nur das Geld – ich möchte eben nichts hinter deinem Rücken machen.«
    »Hinter meinem Rücken?«
    »Ist doch alles schon so lange her«, sagte er hilflos.
    »Was denn?«
    Es drängte ihn, ihr einfach Marias Brief und das Foto zu geben, fand dann aber, dass das grausam wäre. Eine verlegene Stille trat ein, die, wie er erkannte, schmerzhaft für sie sein musste.
    »Es gab ein Kind«, begann er.
    »Ein Kind?«
    »Während des Krieges. In Rom.«
    »Was für ein Kind?«
    »Ein Kind von mir.«
    »Du hattest ein Kind?«
    »Ja.«
    Sie sagte nichts. Er hatte das merkwürdige Gefühl, dass er gar nichts gesagt hatte, dass das Geheimnis noch immer bestand. »Ich war mir nicht sicher«, sagte er. »Ich wusste nicht, wo sie ist. Das wusste ich erst, als ich diesen Brief bekam.«
    »Einen Brief?«
    Er gab ihn ihr. Ihr Gesicht war blass, aber ausdruckslos, als sie ihn las. Dann nahm sie das Foto heraus und sah es an.
    »War das die Frau?«
    »Ja.«
    »Hast du sie geliebt?«
    »Das kann ich nicht erklären. Du hast einfach keine Vorstellung, wie der Krieg war.«
    »Wir haben nie darüber gesprochen.«
    »Ich kann es nicht. Willst du, dass ich dir vom Grauen erzähle? Ich hätte damit gar nicht angefangen, wenn …«
    »Was willst du machen?«
    »Ich werde das Kind unterstützen«, sagte er. »Ich habe darüber nachgedacht, und ich werde ihm monatlich hundert Dollar schicken. Ich glaube, ich möchte einfach deinen Segen.«
    »Meinen Segen !«, sagte sie mit plötzlich erhobener Stimme.
    »Betsy, soll ich mich für dieses Kind entschuldigen? Während des Krieges ist so viel passiert! Seltsam, dass ich mich dafür entschuldigen soll. Ich habe siebzehn Menschen getötet. Ich habe einem achtzehnjährigen Deutschen die Kehle durchgeschnitten, und ich habe Hank Mahoney umgebracht, meinen besten Freund, weil ich eine Handgranate zu schnell geworfen habe. Ich schäme mich dessen nicht, aber dass ich ein Kind habe, das geht mir an die Nieren. Was soll ich dir sagen?«
    »Alles«, sagte sie. »Ich will, dass du mir alles erzählst. Du kannst nicht einfach daherkommen und mir sagen, dass du in Italien ein Kind hast, und das war’s. Wenn du es mir nicht jetzt erzählst, grüble ich mein ganzes restliches Leben darüber. Wo hast du diese Frau auf dem Foto da kennengelernt?«
    »In Rom.«
    » Wo in Rom?«
    »In einer Bar.«
    »Wurdet ihr euch förmlich vorgestellt, oder hast du sie einfach aufgegabelt?«
    »Verdammt«, sagte er, »machen wir es doch nicht schlimmer, als es sein muss.«
    »Ich mache es nicht schlimmer, als es sein muss! War sie bloß eine gewöhnliche Eroberung? Warst du betrunken, Tommy?«
    »Ich war nicht betrunken. Ich hatte Angst. Und sie auch. Sie war achtzehn. Ihre Eltern waren vor ihren Augen verbrannt. Sie war mittellos und hungrig. Aber lassen wir das jetzt.«
    »Nein«, sagte sie. »Ich will es wissen. Wie oft hast du mit ihr geschlafen?«
    »Ich habe mit ihr zusammengelebt«, sagte er. »Zwei Monate habe ich mit ihr zusammengelebt.«
    »Wann?«
    »1944.«
    »Wann 1944?«
    »Dezember und einen Teil des folgenden Januars.«
    »Um die Jahreswende«, sagte sie. »Weißt du was, Tommy? In diesen Monaten bin ich fast verrückt geworden vor Sorge um dich. Ich finde das schon ziemlich komisch. Du hast nicht geschrieben. Zum ersten Mal waren so lange keine Briefe gekommen. Ein ganzes Vierteljahr habe ich nichts von dir gehört. Das werde ich nie vergessen. Ich hatte mir solche Sorgen gemacht, dass ich deine Großmutter gedrängt habe, in Washington ein paar Verbindungen spielen zu lassen und herauszufinden, wo du

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