Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
selbst.«
»Quatsch!«, rief Betsy, als Tom ihr am Abend von seinem Gespräch mit Haver erzählte. »Der alte Ziegenbock will dich nur halten! Er wird dir ein Angebot mit einer popeligen Erhöhung machen, die du schon vor zwei Jahren hättest kriegen müssen, und jedes Mal, wenn du wieder eine willst, musst du ihm drohen, dass du gehst!«
Nachdenklich nippte sie an ihrem Burgunder. »Weißt du, was du jetzt tun solltest?«, sagte sie. »Du solltest dich mal mit Großmutter unterhalten. Schließlich hat sie dich überhaupt erst auf die Stelle bei der Stiftung gebracht, vielleicht kann sie ja irgendwie rausfinden, ob Haver wirklich was Großes mit dir vorhat. In jedem Fall sollte sie wissen, dass du dir überlegst, da wegzugehen – sie wäre gekränkt, wenn sie es von jemand anderem erfahren würde.«
»Wahrscheinlich«, sagte Tom widerstrebend. »Ich schau am Samstag mal bei ihr vorbei.«
Am Samstagmorgen fuhr er allein nach South Bay, denn inzwischen hatten alle drei Kinder Windpocken, und Betsy musste bei ihnen bleiben. South Bay ist eine Kleinstadt unweit von Stamford. Als Tom sich ihr näherte, hatte er das merkwürdige Gefühl, nach Hause zu kommen, und trotz der vielen Jahre, die vergangen waren, seit er dort gelebt hatte, war es noch immer stark. Die breite, ulmenbestandene Hauptstraße hatte sich seit dem Krieg verändert. Auf den Feldern, auf denen Tom als Junge Kaninchen gejagt hatte, standen farbenfroh gestrichene einstöckige Häuser, und sogar der alte Neun-Loch-Golfplatz war auf wundersame Weise zu einer Siedlung namens »Shoreline Estate« geworden, obwohl er gut drei Kilometer landeinwärts lag. Die Straße, die von der Hauptstraße zum Haus seiner Großmutter führte, war allerdings kaum anders geworden. Die großen Backsteinvillen waren nicht mehr ganz so gepflegt wie damals, als Tom auf seinem Fahrrad daran vorbeifuhr, aber sie wirkten noch immer behaglich, solide und viel dauerhafter als die unlängst errichteten Häuschen auf dem Golfplatz, die aussahen, als könnten sie genauso schnell verschwinden, wie sie gekommen waren. Am Ende einer Reihe großer Villen wurde die Straße schmal und führte einen steilen Hang hinauf. Der alte Ford ächzte, als Tom in den zweiten Gang herunterschaltete. Die Straße wies zwei scharfe Kurven auf, bedingt durch massige Felsnasen, die dem Berg den Anschein eines Gebirges gaben. In der zweiten dieser Kurven war Toms Vater, Stephen Rath, dreißig Jahre davor getötet worden, noch bevor Tom alt genug war, sich an ihn zu erinnern. Stephen Rath war eines Abends sehr spät in offenbar rasendem Tempo die Straße hinuntergefahren und war so heftig gegen den Fels geprallt, dass sein Wagen vollständig zerstört wurde. Tom hatte nie herausgefunden, warum sein Vater die schmale Straße zu dieser ungewöhnlichen Stunde so schnell gefahren war, und vor langer Zeit schon hatte er gelernt, nicht mehr darüber nachzugrübeln. Als er nun an dem Fels vorbeifuhr, wandte er den Blick ab, wie er es seit seinem fünften Lebensjahr tat, als er erfahren hatte, dass sein Vater an der Stelle gestorben war.
Steinerne Pfosten mit einem Meter hohen Eisenurnen darauf bezeichneten den Beginn der Einfahrt zu Großmutters Haus. Dahinter befanden sich das Kutschenhaus, das allein schon größer war als Toms Haus in Westport, und der Steingarten, in dem seine Mutter und er vor langer Zeit so viele sonnige Vormittage verbracht hatten. In der Ecke des Gartens stand eine schwere Bank, heute fast vollständig von Büschen umringt, die einstmals sauber gestutzt gewesen waren. Bei ihrem Anblick überfiel Tom dasselbe alte Gefühlsgemisch, an dem er immer gelitten hatte, wenn er das Haus besuchte, als wäre jeder Gegenstand dort von einem speziellen Geist erfüllt, der ihn ansprang, sobald er durchs Tor gefahren war. Seine Mutter hatte unzählige Nachmittage dort auf der Bank verbracht und ihm beim Spielen zugesehen. Einmal, da war er ungefähr sieben Jahre alt, waren ihm zwei Gedichtzeilen aufgefallen, die in kraftvoller Schrift über die Rückenlehne der Bank geschrieben waren. Mit dem Zeigefinger hatte er die Buchstaben, die in den warmen Stein geritzt waren, nachgezogen und seine Mutter gefragt, was sie bedeuteten. Jetzt, fast dreißig Jahre danach, erinnerte er sich noch immer an die Bitterkeit in ihrer Stimme, als sie las: »Die Lerche steigt auf, die Schneck’ ist am Dorn: Gott ist im Himmel – alles gut mit der Welt!«
Er wandte rasch den Blick von der Bank, die jetzt so eigenartig von
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