Der Mann im Karton
Schnurrbart gleich dazu. Die Augen saßen
tief im faltigen Gesicht und ihr Ausdruck gefiel mir gar nicht. Der Mensch war
damit beschäftigt, sein Gebiß mit einer zurechtgebogenen Büroklammer zu
reinigen.
»Das Zimmer sechs Dollar«,
sagte er gleichgültig. »Zahlbar im voraus .«
»Sechs Dollar gäbe ich Ihnen
nicht mal fürs ganze Grundstück«, belehrte ich ihn. »Wohnt hier einer, der Kasplin heißt?«
»Kennen Sie ihn gut?«
»Ich bin sein bester Freund«,
sagte ich. »Wieso interessiert Sie das?«
Er zuckte die hageren
Schultern. »Es kommt mir komisch vor. Seine anderen Bekannten sind nämlich
vorwiegend Menschen.«
»Woher wollen Sie das
wissen?«
»326«, sagte er vorsichtig. »Es
ist schon ziemlich spät. Soll ich mal bei ihm anrufen?«
In meinem Gürtel steckte noch Marges Messer, ich zog’s heraus
und warf es in die Luft. Eins mußte man Marge lassen: Sie hielt nichts von
billigem Zeug. Das Messer war so exakt ausbalanciert, daß es haargenau mit der
Spitze einschlug und vor den faszinierten Augen des Schnurrbärtigen schwankend
im Tisch steckenblieb.
»Es wäre mir lieber, Sie
kümmerten sich um Ihren Kram, mein Freund«, sagte ich beiläufig, dann riß ich
das Messer aus der Tischplatte und steckte es wieder in den Gürtel. »Oder ich
putze Ihnen mal die Zähne, aber richtig!«
»Es war ja nur so eine Idee«,
stotterte er. »Wenn Sie ihn überraschen wollen, mir soll’s recht sein.«
Ich fuhr mit dem ächzenden
Fahrstuhl in den dritten Stock, wo ich die Tür mit der Nummer 326 hinter einer
Biegung des Korridors entdeckte. Drei Minuten später taten mir die Knöchel weh,
und ich war schon entschlossen, die Tür einzuschlagen, da öffnete sie sich
behutsam.
Vor mir stand Kasplin und starrte mich mit allen Anzeichen höchster Wut
an.
»Ich hätte es mir denken
können«, keifte sein silbriges Vogelstimmchen. »Wer sonst könnte mitten in der
Nacht an meine Tür donnern!«
Selbst im seidenen Morgenmantel
wirkte er tadellos gekleidet; kein Härchen auf seinem glänzenden Haupt war in
Unordnung.
»Ich bedaure«, entschuldigte
ich mich, »aber es ist dringend.«
»Nichts kann so dringend sein,
Mr. Boyd«, erklärte er ärgerlich. »Bitte entfernen Sie sich, oder ich rufe den
Portier an und lasse Sie gewaltsam wegbringen.«
»Sie glauben doch wohl nicht im
Ernst, daß ich nächtliche Besuche nur so zum Zeitvertreib abstatte?« fuhr ich
ihn an. »Ich weiß, wer Kendall ermordet hat und Sie können mir helfen, den Fall
abzuschließen.«
»Wirklich?« Aus seiner Stimme
klang höfliche Verachtung. » Wieviel soll es mich denn
diesmal kosten, Mr. Boyd? Fünfhundert Dollar dafür, daß Sie die Person nicht
gefunden haben, die Donna Albertas Hund auf dem Gewissen hat — ich bezweifle
sehr, daß ich mich an Ihrem jüngsten Geheimnis beteiligen kann.«
»Nun suchen Sie bitte keinen
Ärger um jeden Preis«, sagte ich. »Der Kerl, der Kendall — und den Hund —
umgebracht hat, ist Earl Harvey.«
Er legte eine zierliche weiße
Hand auf meine Brust und drückte sanft dagegen. »Verschwinden Sie! Sie sind ja
betrunken, Boyd!«
»Er hat die Künstler erpreßt,
für ihn zu arbeiten«, beschwor ich ihn. »Sowohl Rex Tybolt als auch Margot Lynn geben das zu. Aber sie haben zu viel Angst, es vor der
Polizei zu bestätigen. Ich dachte mir, wenn Sie Donna Alberta überreden
könnten, eine Aussage zu machen...« Ich bemerkte seinen verständnislosen
Ausdruck und schwieg.
»Donna Alberta?« wiederholte er
sanft. »Eine Aussage? Worüber denn, Mr. Boyd?«
»Nun kommen Sie mir ja nicht
auf diese Tour! Sie wissen ganz genau, daß sie ebenso wie die anderen zu diesem
Auftritt gezwungen worden ist.«
»Ich habe keinerlei Ahnung von
solchen Dingen«, erklärte Kasplin barsch. »Entweder
ist es ein Produkt Ihrer verwirrten Phantasie, Boyd — aber mir scheint eher,
Sie sind betrunken, wie ich soeben schon sagte.«
»Nun hören Sie mal!« Ich
blitzte ihn an. »Sie können doch nicht...«
Ein durchdringender Schrei zerriß die Stille. Einen Augenblick lang spiegelte Kasplins Gesicht meine eigene Überraschung wider — dann
wurde ein Stückchen meiner Traumwelt hinter ihm zur Wirklichkeit.
»O mein Gott!« sprach das
Stückchen mit bebender Stimme. »Da drin ist eine Maus!«
Das Beben beschränkte sich
nicht auf die Stimme. Da fing es vielleicht an, aber es setzte sich in
wellenförmigen Schwingungen fort, bis es sie von Kopf bis Fuß schüttelte. Langsam
wurde mir bewußt, daß sie gar kein Phantasieprodukt,
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