Der Mann im Labyrinth
so weit weg. Die Sonne vom Planeten Lemnos war ein trüber Zwerg der M-Klasse, ein kalter, müder und alter Stern, der von einem Dutzend greiser Planeten umkreist wurde. Lemnos, der innerste Planet, war der einzige, der jemals Leben hervorgebracht hatte. Alle anderen Trabanten waren unfruchtbar und tot, lagen jenseits der lebensspendenden Strahlen dieser kraftlosen Sonne, waren vom Kern bis zur Oberfläche gefroren. Es war ein schläfriges Sonnensystem mit so geringer Anziehungskraft, daß selbst der sonnennächste Planet auf einem dreißigmonatigen Orbit bummelte. Die drei flinken Monde von Lemnos, die in überschneidenden Bahnen nur wenige tausend Kilometer über der Planetenoberfläche dahinsausten, wollten so gar nicht zu der in diesem System vorherrschenden Stimmung passen.
Ned Rawlins war nicht ganz wohl ums Herz, als er etwa tausend Meter von den Außenwällen entfernt neben dem Datenterminal stand und seine Kameraden die Roboter und Instrumente bereitstellten. Nicht einmal der tote Mars mit seiner pockennarbigen Oberfläche hatte den Jungen so beeindrucken können wie diese Welt. Denn der Mars war eine Welt, die niemals Leben hervorgebracht hatte, während hier auf Lemnos eine blühende Kultur existiert hatte und wieder vergangen war. Lemnos war heute wie ein Leichenhaus. In Theben hatte er einmal das Grab eines Pharaonenberaters besucht, der vor fünftausend Jahren gestorben war. Während die anderen aus der Gruppe nur Augen für die wunderbaren Wandmalereien gehabt hatten, die in lebendigen Szenen weißgekleidete Gestalten darstellten, die auf dem Nil ruderten, hatte er lediglich auf den kühlen Steinboden starren können, wo ein toter Käfer mit nach oben gereckten, hakenbesetzten Beinen auf einem kleinen Staubhaufen gelegen hatte. Für ihn würde Ägypten immer dieser erstarrte Käfer im Staub sein. Und Lemnos würde für ihn immer Herbstwinde, eine blank gefegte Ebene und die schweigende Stadt bedeuten. Ned fragte sich, warum ein Mensch, der so begabt und so voller Leben, Energie und menschlicher Wärme gewesen war wie Dick Muller, sich aus freien Stücken in dieses traurig schreckliche Labyrinth zurückgezogen hatte.
Dann erinnerte er sich, was Muller auf Beta Hydri IV zugestoßen war, und kam zu dem Schluß, daß selbst eine Persönlichkeit wie Muller gute Gründe gehabt haben mußte, sich auf einer Welt wie dieser zu verkriechen – in einer solchen Stadt. Lemnos war eine ausgezeichnete Zuflucht: eine erdähnliche Welt, außerdem unbewohnt und fast mit einer Garantie versehen, von menschlicher Gesellschaft frei zu sein. Und wir sind hier, um ihn herauszuscheuchen und fortzuschleppen. Neds Miene verfinsterte sich. Wie schmutzig, dachte er, wie schmutzig und gemein. Das alte Lied vom Zweck, der alle Mittel heiligt. Ein Stück weiter konnte Rawlins die stämmige Gestalt von Charles Boardman sehen, der direkt vor dem großen Datenterminal stand und mit den Armen in verschiedene Richtungen zeigte, um den Männern an den Außenwällen Anweisungen zu geben. Allmählich kam Ned zu der Erkenntnis, von Boardman zu einer unschönen Sache überredet worden zu sein. Der aalglatte alte Teufel hatte sich daheim auf der Erde gar nicht erst auf Einzelheiten eingelassen, hatte nichts über die Art und Weise verlauten lassen, mit der Muller zur Zusammenarbeit gebracht werden sollte. Aus Boardmans Mund hatte sich das Unternehmen wie ein glorienbeschienener Kreuzzug für eine gerechte Sache angehört. Statt dessen handelte es sich um einige schmutzige Tricks. Boardman nannte nie Roß und Reiter, erläuterte nie die einzelnen Umstände, bevor er nicht dazu gezwungen war, wie Rawlins jetzt begriff. Er handelte nach der Maxime: Laß dir nie in die Karten sehen. Behalte deine Strategien für dich. Gib nie zuviel preis. Und so fand Ned sich hier wieder, als Teil und Mitspieler bei einer Verschwörung.
Hosteen und Boardman hatten ein Dutzend Drohnen vor den verschiedenen Eingängen zum Innenteil des Labyrinths postiert. Es war bereits klar, daß der einzige Sichere Weg in die Stadt durch das nordöstliche Tor führte. Aber sie verfügten über mehr als genug Drohnen und wollten außerdem alle Informationen einholen, deren sie habhaft werden konnten. Der Bildschirm, vor dem Rawlins stand, zeigte ein Teildiagramm des Labyrinths – die Sektion, die unmittelbar vor ihm lag – und gab ihm lange Zeit Gelegenheit, sich ein Bild von den Windungen und überraschenden Sackgassen, von Zickzackwegen und Fehlverbindungen zu machen.
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