Der Mann im Park: Roman (German Edition)
der Typ, den man erwartet hatte. Er war kein Wahnsinniger, der von inneren Stimmen getrieben wurde, wie die Psychiater geglaubt hatten. Menschenleben waren ihm nicht gleichgültig, die Wahrheit lag weit entfernt von dem düsteren Raunen der Presse. Es hatte sich um einen jungen Mann gehandelt, der nie eine Chance bekommen hatte, der in so ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war, dass er trotz seiner Begabung nicht hatte studieren können, und der weniger begabte, aber reiche junge Männer gesehen hatte, die an ihm vorbei nach oben strebten. Der Täter hatte die Grenze überschritten, hatte auf gewaltsame Art und Weise gegen die Gesellschaft revoltiert. Und er war von den Hetzartikeln der Presse weitergetrieben worden, hatte jedoch immer darauf geachtet, dass kein Blut an seinen Händen klebte.
Auf Långholmen hatte man dem Sabbatsaboteur eine Chance gegeben. Dort hatte er sich zum Ingenieur ausbilden lassen. Stierna überlegte, ob er wohl jemals wieder von dem Mann hören würde. Er nahm es nicht an, nicht, nachdem der junge Mann die Möglichkeit bekommen hatte, etwas Besseres zu machen. Aber es gab viele, die nie diese Möglichkeit bekamen.
Stierna zog das Blatt Papier aus der Schreibmaschine und stand auf.
»Guten Tag, Chef. Wie geht’s?«
Stierna drehte sich um. Ein Mann war ins Zimmer gekommen. Er war groß, hatte graues Haar und trug eine helle Hose und ein kurzärmliges blaues Hemd.
»Danke, gut, Gösta.«
Gösta Berg war jetzt seit mehr als drei Jahren im Kriminalmuseum. Berg war ein paar Jahre älter als er und hatte im siebten Polizeirevier in der Smålandsgatan gearbeitet; trotzdem konnte Stierna sich nicht daran erinnern, jemals im Dienst auf ihn gestoßen zu sein, bis zu dem Tag, an dem er ihm das erste Mal hier oben auf dem Dachboden in der Bergsgatan begegnete, im Frühling 1950.
»Wann machst du Feierabend?«
»Weiß ich noch nicht«, antwortete Stierna. »Aber wohl nicht so spät, ich muss ja die Fähre kriegen. Spätestens um vier muss ich hier los.«
»Du weißt, ich werde immer ganz nervös, wenn du nicht da bist. Und jetzt kommst du gar nicht mehr.«
Stierna konnte nicht sagen, wie oft Berg genau diesen Satz von sich gegeben hatte: »Ich werde immer ganz nervös, wenn du nicht da bist.« Er hatte nie sagen können, ob der Kollege es ernst meinte oder nicht. Hatte sich aber auch nie die Mühe gemacht, das herauszufinden.
»Wir können die Vitrine mit dem Sabbatsaboteur zurechtmachen«, sagte Stierna. »Ich habe den Text fertig, und das Archiv hat genau das geschickt, was wir haben wollten. Die Dynamitstangen, die Lunte und die Fotos.«
»Gut«, sagte Berg. »Ich werde dafür sorgen, dass das heute noch gemacht wird.«
Stierna setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und verschränkte die Hände im Nacken.
»Gibt es heute noch weitere Führungen? Ich meine mich zu erinnern, dass eine Gruppe von Jurastudenten aus Uppsala noch kommen sollte.«
»Ja, stimmt«, nickte Berg. »Für drei Uhr sind sie angemeldet. Eigentlich sollte Ljungman sie übernehmen, aber er ist noch nicht aufgetaucht.«
»Ist er noch nicht zurück? Wann ist er denn gefahren? Doch schon vor zwei Stunden, oder?«
»Mindestens«, bestätigte Berg.
Gösta Berg, Allan Ljungman und ich, dachte Stierna. Ein merkwürdiger Haufen.
Allan Ljungman war dreiundsechzig, der älteste der drei, und Stierna war ihm gegenüber immer misstrauisch gewesen. Vielleicht lag es daran, dass Ljungman in den Vierzigern für den Geheimdienst gearbeitet hatte. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass es Gerüchte gab, wonach er im Zweiten Weltkrieg Listen über politische Abweichler geführt habe. Auf jeden Fall hatte Stierna das Gefühl, dass er den Kollegen nicht so richtig fassen konnte.
An diesem Tag, seinem letzten im Kriminalmuseum, seinem allerletzten im Polizeidienst, hatte Stierna Ljungman gebeten, Akten aus dem Archiv zu holen. Was eigentlich nicht länger als zwanzig Minuten dauern durfte. Aber Ljungman war nach gut zwei Stunden immer noch nicht zurück.
»Kannst du das übernehmen, wenn er noch nicht wieder da ist?«, fragte Stierna. »Ich möchte heute nicht nach Hause hetzen.«
»Natürlich«, nickte Berg.
Stierna stand wieder auf. Er musste trotz allem noch einmal nachsehen, wie es mit den Uniformen stand.
Er ergriff den Stock, der neben dem Schreibtisch stand. Humpelnd verließ er das große Zimmer. Er ging durch den unangenehmsten Raum des Museums, in dem Mord, Selbstmord und Verkehrsunfälle gezeigt wurden.
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