Der Mann im Schatten - Thriller
überschwemmte mich.
»Audrey«, murmelte ich. »Sammy hat den Pädophilen getötet, der seine Schwester Audrey auf dem Gewissen hat?«
»Richtig.« Smith nickte. »Griffin Perlini. Sie werden sich sicher an ihn erinnern.«
Noch jetzt jagte mir dieser Name einen kalten Schauer den Rücken hinunter. Das Schreckgespenst eines Siebenjährigen. Wie viele schlaflose Nächte, wie viele im Dauereinsatz durchgebrannte Glühbirnen hatte ich diesem Namen zu verdanken. Einem Mann, der mit einem Handstreich die gesamte Cutler-Familie zerstört hatte.
»Es gibt einige unter uns, die der Überzeugung sind, Mr
Cutler dürfe für diese Tat nicht bestraft werden«, fügte Smith hinzu.
Besonders ein Bild war mir in Erinnerung geblieben, aus welchen Gründen auch immer: Audrey Cutler, die mit anderthalb Jahren auf wackligen Beinchen durch den Garten lief, während Sammy ihr gebückt folgte, um sie aufzufangen, wenn sie fiel. Einer der anderen Jungs machte sich über Audreys torkelnden Gang lustig - sie sieht irgendwie behindert aus -, so etwas in der Art. Sammy reagierte nicht sofort, warf mir aber einen Blick zu. Kurz darauf rief Sammys Mutter die kleine Audrey ins Haus, und Sammy trug sie nach drinnen. Als er ein paar Minuten später in den Garten zurückkam, presste ich den Jungen bereits fest auf den Boden, und Sammy und ich sorgten dafür, dass er in Zukunft nur noch Komplimente für Audreys Laufstil übrighatte.
Ich war mir nicht sicher, was ich von der ganzen Sache halten sollte. Seit der Sache mit Talia und Emily waren meine Gefühle wie betäubt. Ich spürte, wie sich meine Muskeln verspannten und eine vage Panik in mir aufstieg.
Offensichtlich hatte Sammy mich als Anwalt verlangt. In gewissem Sinne eine nachvollziehbare Entscheidung. Allerdings fragte ich mich, wie vertraut er mit meinem Lebensweg war. Wir hatten uns sicher zwanzig Jahre nicht gesehen. Ich hatte keine Ahnung, was aus ihm geworden war, und fühlte mich plötzlich verunsichert.
»Geld ist nicht das Problem«, bemerkte Smith. »Spätestens morgen bekommen Sie einen beträchtlichen Vorschuss. Und ich gehe davon aus, dass Sie bereits heute Nachmittag einen Termin für einen Besuch bei Mr Cutler frei machen können.«
Ich nickte abwesend, während die Erinnerungen in unablässigen Wellen zurückkehrten, Erinnerungen an einen kleinen
Jungen, der seine Schwester auf schreckliche Weise verloren hatte, an eine völlig verzweifelte Mutter, an das offene Fenster von Audrey Cutlers Schlafzimmer in einer verfluchten Sommernacht.
5
Talia schiebt unsere Tochter Emily im Buggy durch den Stadtzoo. Sie hält bei den Seelöwen, und Emily kreischt vor Vergnügen. Emily will aussteigen. Talia nimmt sie auf den Arm und tritt an die Absperrung, hinter der die Seelöwen aus dem Wasser schnellen und unter Beifallsgeschrei der Kinder ihre schwarzen Schnauzen hoch in die Luft recken.
»Robben«, ruft Emily.
»Seelöwen.« Nicht dass Talia wirklich wüsste, worin der Unterschied besteht. Sie lächelt ihre Tochter an.
Talia hat die Stadt immer geliebt. Als Tochter italienischer Immigranten in der Provinz aufgewachsen, ist sie während der Collegezeit in die Stadt gezogen und hat sie seitdem nie mehr verlassen. Sie liebt die Vitalität, das Tempo, die Vielfalt, das Theater, die Restaurants und die Kultur. Und sie möchte, dass Emily hier aufwächst.
»Robben«, beharrt Emily. Zehn Minuten später ist ihre Aufmerksamkeitsspanne bereits erschöpft, und sie ordnet an: »Nilpferde.«
»Okay, Schätzchen.« Talia streicht über Ems Haar und küsst ihr die Stirn. Emily will nicht zurück in den Kinderwagen,
aber sie möchte auch nicht selbst laufen. Also bleibt Talia nichts anderes übrig, als sie weiter zu tragen, während sie mit der anderen Hand den Buggy vor sich herschiebt.
»Wo ist Daddy?«, will Emily wissen.
»Er ist mit einem wichtigen Fall beschäftigt, Süße.« Aber Emilys Aufmerksamkeit gilt bereits der nächsten Attraktion, den Ottern. Sie hat ihre Frage längst vergessen und sucht nach dem richtigen Wort. »Ott-tah«, stößt sie hervor und klatscht sich dann selbst Beifall.
Talias Gesicht beginnt zu strahlen, wie immer, wenn unsere Tochter glücklich ist. Komisch, dass ein so winziges Detail einen solchen Unterschied macht.
Talia küsst Emily auf den Kopf. »Ich liebe dich, meine Süße«, sagt sie.
Ich liebe dich auch. Ich liebe euch beide.
Ich traf etwas zu früh in der Haftanstalt ein, in der Sammy Cutler einsaß. Die Anstalt direkt neben dem
Weitere Kostenlose Bücher