Der Mann im Schatten - Thriller
ein aktenkundiges Opfer, einer der beiden Missbrauchsfälle, für die Perlini ins Gefängnis gewandert war.
»Klug eingefädelt«, sagte ich. »Vielleicht ein bisschen zu klug. Verabredung zum Mord, Sammy. Möglicherweise wärt ihr dafür beide eingefahren. Du weißt das, oder? Und es ist einer der Gründe dafür, dass du am Ende einem Deal zugestimmt hast. Du wolltest verhindern, dass Archie gefährdet wird.«
Er nickte. »Das spielte auch eine Rolle, ja. Aber wie schon gesagt - als ich von dir erfahren hab, dass Perlini nicht Audreys Mörder ist, hatte ich das Gefühl, ich müsste dafür bezahlen.«
Doch Sammy, so beschloss ich, hatte genug gezahlt. Vielleicht entsprach die Strafe, die er absitzen würde, nicht ganz der Schwere seines Verbrechens, aber alles in allem würde die Welt dadurch nicht allzu sehr aus der Balance geraten.
Ich sah mich in seinem Zimmer um. »Bist du bereit für morgen?«
»Klar.« Er nickte. »Fühlt sich gut an, weißt du. Ich helfe ihr. Ich tue was Gutes. Einer wie ich hat nicht oft die Gelegenheit, was Gutes zu tun.«
»Dann ist das deine zweite Chance.« Ich tätschelte seinen Arm. »Ich bin da, wenn du aufwachst«, versprach ich. »Und wenn Audrey aufwacht.«
»Ja.« Er strahlte bei der Erwähnung ihres Namens. »Sie kennt mich noch gar nicht, Koke. Sie hat jetzt eine ganze Familie.«
Vorläufig war für Audrey noch alles beim Alten geblieben. Sie hatte während der Besuchszeiten nur Carlo gesehen, den sie nach wie vor für ihren Großvater hielt. Carlo war noch nicht rechtskräftig verurteilt, aber ich war mir ziemlich sicher, dass das verhängte Strafmaß bei einem dreiundsiebzigjährigen Mann auf lebenslänglich hinauslief. Ihre »Mutter«, Marisa Butcher, wurde von den Ermittlern nicht weiter belangt, denn vermutlich würden sie nie nachweisen können, dass diese leicht behinderte Frau Teil eines Entführungskomplotts gewesen war. Tatsache war, ich glaubte selbst nicht daran, dass sie irgendeine tragende Rolle bei irgendetwas gespielt hatte, denn sie hatte sich als sanfte und herzensgute Frau erwiesen. Sie hatte eine ziemliche Achterbahnfahrt durchgemacht in der letzten Zeit, hatte ihren Vater an das Gefängnis verloren und fast im gleichen Zug einen Organspender für ihre todkranke Tochter gefunden.
Audreys »Onkel« Tommy war da ein ganz anderer Fall. Was auch immer er über ihre Entführung vor achtundzwanzig Jahren wusste - er behauptete natürlich, völlig unwissend zu sein -, war er doch ganz offensichtlich in die Sache eingeweiht worden, um seine Rolle bei Sammys Prozess spielen zu können. Die Staatsanwaltschaft nahm ihn sich gründlich
vor wegen seines Meineids während Sammys Anhörung. Angesichts seines eindeutigen Interesses am Ausgang von Sammys Prozess war es schon ein gewaltiger Zufall, dass er in der Mordnacht einen Mann aus Griffin Perlinis Wohnhaus hatte flüchten sehen, insbesondere, da er erwiesenermaßen vorher nicht im Downey’s Pub getrunken hatte. Ich rechnete mir gute Chancen aus, dass sie ihn dafür drankriegen würden. Und das bedeutete vermutlich auch, dass sie Tommys Bruder Jake, der Tommys Aussage bestätigt hatte, wegen Behinderung von Ermittlungen belangen würden.
Im Butcher-Haushalt stand es also nicht zum Besten. Audrey, wenn sie morgen mit einer neuen, gesunden Niere erwachte, wäre eines Großvaters und zweier Onkel beraubt, außerdem würde sie einige interessante Neuigkeiten über ihre Familie erfahren.
Aber dann hätte sie ja Sammy.
»Audrey hat dich gut gekannt«, versicherte ich ihm. »Und sie wird dich ganz sicher wiedererkennen.« Dann zog ich meinen Mantel über und spazierte aus der Tür.
»Hey.«
Ich drehte mich noch einmal um.
»Ich bin nicht der Einzige, der eine zweite Chance bekommen hat.«
Das stimmte. Ich war dem Tod um Haaresbreite von der Schippe gesprungen. Waffen haben Ladehemmung. So was kommt vor. Aber war das deshalb gleich Teil eines großen Plans oder eine göttliche Intervention? So einfach würde ich den Zynismus, den ich mein Leben lang gepflegt hatte, nicht über Bord werfen können; ebenso wenig war ich bereit, einen billigen Handel zu akzeptieren - mein Leben für das von Talia und Emily.
Die Luft draußen war eisig geworden. Ich reckte das Kinn in den Novemberwind, ließ ihn mein Jackett aufblähen. Das ist es , dachte ich. Leben in der Version 2.0. So bizarr und bedrohlich der Oktober auch gewesen war, er war viel besser als die vier Monate zuvor. Man hatte mich aus meinem Sumpf gezerrt -
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