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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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ist, im Leben geradeaus zu gehen und auch auf Umwegen nicht vom eigenen Weg abzukommen. Ich glaube, das ist wichtiger als vieles andere.«
    An einer der Anlegestellen drängen sich Menschen, warten auf ihre Einschiffung. Viele trotz des Sommers in mehrere Kleidungsschichten gehüllt, Mäntel darüber, notdürftig zugeschnürte Pappschachteln unter dem Arm. Offenbar haben sie all ihre Habseligkeiten mitgebracht, lassen nichts zurück als ihre enttäuschten Hoffnungen im Nachkriegseuropa, an das man nicht glaubt. Die legendäre Ausreisewelle bekommt ein Gesicht. Und einen Klang. Fremde Sprachen. Polnisch, Tschechisch, Ungarisch. Selten Deutsch dazwischen. Gebrochenes Englisch. Ich denke an die grauenhaften Bilder von der Niederwälzung des Ungarn-Aufstands, die wir vor kurzem in allen Zeitungen gesehen haben. Ob das Menschen sind, die diese Katastrophe miterleben mußten? Mitansehen, wie Familienangehörige, Freunde, Kinder, Geliebte von den russischen Panzern überrollt wurden? Eine fast unerträgliche Vorstellung. Ich schäme mich ein bißchen, Gitta gerade noch so von Rußland vorgeschwärmt zu haben, vom Zarenreich, der Pracht, dem Glanz, von dem auch mein Vater immer wieder mit strahlenden Augen erzählt. Fast bedeutungslos vor dem Terror, den das Land heute über die Menschen ausübt. Und doch eine Nuance, die nicht untergehen sollte im Angesicht, das dieses Land uns heute zeigt.
    »Es ist auch das Rußland Tschaikowskijs und Dostojewskijs und Puschkins«, betont mein Vater immer wieder, wenn neue Greueltaten aus dem Sowjetreich bekannt werden. »So wie Deutschland auch immer das Deutschland Goethes und Rilkes und Beethovens und Brahms’ war. Das vergißt man nur leider manchmal.« Zuflucht in der Welt der Kultur. Vielleicht eine etwas blauäugige Hoffnung und doch ein schöner Gedanke.
    Einige der Wartenden breiten ihre Sachen aus, richten sich offenbar für die Nacht ein. Gitta und ich fühlen uns plötzlich unendlich reich mit unserem Pensionszimmer, in dem wir nachher Zuflucht suchen können. Es ist alles eine Frage der Perspektive, würde mein Vater jetzt sagen.

Im Stundenhotel
    Ein enges, hellhöriges Pensionszimmer. Luxus, den wir uns leisten für unsere letzte Nacht vor dem Sommer. Die anderen schlafen im Bus. Wir haben uns lange auf diese Nacht gefreut, auf die ungeahnten Möglichkeiten der Zweisamkeit, die es in Holland angeblich geben, die fast unvorstellbare Toleranz, die hier in diesen Dingen herrschen soll. Bei uns zu Hause wäre es undenkbar, völlig unmöglich, sich zu zweit in einem Hotelzimmer einzumieten, ohne verheiratet zu sein, oder sich über Nacht zu besuchen. Zu Hause bestehen Zimmerwirtinnen darauf, daß die Türen offenbleiben, wenn Besuch empfangen wird, und es gibt Gesetze, die »Kuppelei« verbieten.
    Mein Bruder Joe wurde vor kurzem sogar festgenommen, als er bei seiner zukünftigen Ehefrau Christa in deren Elternhaus die Nacht verbrachte. Nachbarn hatten Anzeige erstattet, die Polizei war gekommen, hatte Joe mitgenommen und gegen Christas Eltern eine Klage wegen »Kuppelei« angestrengt. Nur mit großer Mühe und dem glaubwürdigen Beweis, daß die beiden verlobt sind, ließ sich die Sache doch noch irgendwie in Ordnung bringen. Seither sorgt die Geschichte zwar immer wieder für große Erheiterung im Familien- und Freundeskreis, doch sie ist für alle jungen Leute von bitterer Realität. Jeder von uns kennt die verzweifelte Suche nach einer Gelegenheit, miteinander allein zu sein, ungestört. Gestohlene Stunden der Zweisamkeit … eigentlich nur im Auto möglich.
    Um so verheißungsvoller war Gitta und mir die Aussicht einer gemeinsamen Nacht in einer kleinen, verschwiegenen holländischen Pension erschienen. Vorfreude …
    Nur, trotz allem. Wir hätten ahnen müssen, daß hier etwas nicht stimmt, als wir unten von der älteren, grell geschminkten und etwas ordinär wirkenden Frau in gebrochenem Englisch gefragt worden waren, welches Bett wir uns wünschten. Wir hatten all unseren Mut zusammengenommen und »Doppelbett« gesagt, »Doppel zimmer « nachgesetzt, zur Sicherheit. Die Frau hatte gelächelt, »of course«, uns wortlos den Schlüssel gereicht. Kein schräger,
prüfender Blick, keine Frage. Nur zahlen mußten wir sofort. Nun ist unüberhörbar, wohin wir hier geraten sind: Gerade erst hatte ein Mann nebenan an die Tür geklopft. Er war mit uns zusammen angekommen. Keine fünf Minuten später schon das rhythmische Quietschen der Matratze durch die dünnen Wände,

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