Der Mann mit dem Fagott
Heimat an. Eines jener Volkslieder von heiterer Traurigkeit, die Johannes Brahms zu seinen Ungarischen Tänzen inspiriert haben. In die von so unendlich vielen Erwartungen geprägte Nacht hinein erklingt die Klarinette: klar, rein und wehmütig, wie es nur dieses Instrument kann.
Einige der Emigranten beginnen zu tanzen. Ein anderer hat seine Geige mitgebracht, stimmt ein, gibt die nächste Melodie vor. Sie spielen alles, was ihnen in den Sinn kommt: Von »Hava Nagila« bis »Quantanamera«, von »Lili Marleen« bis »What Shall We Do With The Drunken Sailor«, von »Rolling Home« bis »My Bonnie Lies Over The Ocean«, während die Lichter immer näherkommen, sich in ihnen langsam die Skyline abzeichnet, ohne daß sich schon Gebäude erkennen ließen oder ihre Begrenzungen. Eine Stadt aus Lichtern. Ein bißchen wie eine Theaterkulisse. Verheißungsvolles, geheimnisvolles Glänzen. Ich frage mich, wie oft mein Urgroßvater, der Kapitän, die Annäherung an diese Stadt, die Hoffnungen, den Jubel, erlebt haben mag.
Ein polnischer Kellner aus der Offiziersmesse, der auf abenteuerlichen Wegen über Deutschland nach Holland gekommen war und auf der »MS Waterman« angeheuert hatte, um sich mit der Arbeit auf dem Schiff einen Teil der Überfahrt zu verdienen, packt
in unserer Nähe sein Akkordeon aus, die Kellnerschürze noch umgebunden, und unterstützt wie selbstverständlich die anderen in ihrem Spiel. Herwig und ich klatschen lachend im Takt. Unsere Blicke treffen sich mit den seinen. Wir nicken uns zu.
Am Horizont lassen sich inzwischen mit etwas Phantasie schon erste Konturen der riesigen Stadt erkennen, schwach begrenzt gegen den langsam in silbernem Licht tagenden Himmel.
Kaum noch vorstellbar, durch welch schwere Stürme wir noch vorgestern fuhren. Zwei Tage lang wurde das Schiff umhergeschleudert, den unbändigen Kräften der Natur scheinbar hilflos ausgeliefert, gewaltige Brecher, die über den zwölf Meter hohen Bug und über die Aufbauten des Schiffes schlugen, Geräusche von knarrenden, unter Druck stehenden Stahlwänden, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Und dann plötzlich ein ruhiger Morgen, als wäre nie etwas geschehen. Alle Urgewalt vergessen. Und auch in diesen Stunden liegt die See ruhig und glatt vor uns. Gleichmäßig gleitet die »MS Waterman« ihrem Ziel entgegen. Zum letzten Mal das Gefühl von Weite, das uns die letzten zehn Tage - manchmal auch beklemmend - umgab.
Schweigend beobachten wir das seltsam bunt zusammengewürfelte Völkchen der feiernden Passagiere, und ich begreife plötzlich, daß wir paar Dutzend Studenten aus Europa die einzigen »normalen« Passagiere auf dem Schiff sind. Was auch immer uns in Amerika erwartet, wir wissen, daß wir wieder zurückkehren werden in unser mehr oder weniger geregeltes Leben. Aber diese Menschen hier … Für sie gibt es nicht einmal mehr ein Zuhause, in das sie zurückkehren könnten. Nur noch diese eine einzige Chance: Amerika.
Zum ersten Mal wird mir bewußt, daß es neben der Freiheit, die wir alle immer wieder beschwören, auch noch eine ganz andere, eine tragische, bittere Freiheit gibt. Nichts mehr zu haben, nur noch das eigene Leben und die paar Dinge, die man mit sich tragen kann, völlig auf sich selbst zurückgeworfen zu sein …
Und seltsamerweise scheint es immer nur Amerika zu sein, das dann für die Menschen zum letzten Ausweg wird, ein Auffangbecken für die Opfer der Geschichte.
Vielleicht ist dieses Land auch deshalb so groß geworden, weil es Menschen anzieht, die nur noch ihre eigene Kraft haben und weil es ihnen diese letzte Chance gibt, aus dem Nichts noch einmal aufzusteigen.
Wer es geschafft hat, hilft mit, dieses Land groß zu machen. Wer scheitert, dem wird allerdings auch keine helfende Hand gereicht. Vielleicht ist das das Geheimnis der vielbeschworenen amerikanischen Freiheit.
Ich beobachte nachdenklich den Tanz der Möwen, die weit hinausgeflogen sind und in der Morgendämmerung unser Schiff begleiten. Die ersten Boten der Neuen Welt. Die Passagiere begrüßen sie fröhlich. Viele werfen ihnen Brocken zu, mit leichter Hand, freuen sich an ihrem taumelnden Schweben, ihrer Leichtigkeit und Freiheit. Beinahe unbeschwert. Beinahe schon am Ziel. Und doch unendlich weit von ihm entfernt. Zerrissenheit im lebensfrohwehmütigen Klang der Klarinette, die sich in die Schreie der Vögel mischt. Für einen Augenblick die bittere Ahnung, daß der Mann mit seiner Klarinette und seinem Bündel vielleicht schon
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