Der Mann mit dem Fagott
Melodie immer leiser wird, Gitta und ihr winkendes Taschentuch immer kleiner und kleiner werden und schließlich in der Ferne verschwinden.
»Schickt mir, die arm sind und geschlagen«
»Da! Da vorne! Das muß es sein!« Gedränge an Deck, obwohl es kühl ist in dieser Nacht, der Fahrtwind und die aufpeitschende Gischt ein übriges tun. Wetteifern in verschiedenen Sprachen, um der erste zu sein, der die Lichter sieht, den verheißungsvollen nächtlichen Glanz der Neuen Welt. Zehn Tage ist es nun her, seit wir Rotterdam verlassen haben. In wenigen Stunden sollen wir New York erreichen.
Manche der Emigranten haben sogar schon jetzt, fast einen halben Tag vor der Ankunft, ihr Gepäck an Deck gebracht, die verschnürten alten Koffer, Wolldecken, ihr weniges Hab und Gut. Sie hält es angesichts ihrer neuen Heimat nicht mehr in den engen Schlafsälen. Zu groß sind die Erwartungen, die Unruhe, die Hoffnungen und Ängste.
Und tatsächlich, ganz in der Ferne, am Horizont ein etwas hellerer Himmel, als würde er angestrahlt von Millionen von Lichtern. Ein geheimnisvoller Schimmer. Das kann nur New York sein!
Wir haben es uns nicht eingebildet. Man kann es wirklich schon ahnen!
Herwig und ich haben bis vor einer Stunde in der Offiziersmesse Klavier gespielt, wie in fast jeder Nacht an Bord. Einfach so. Niemand hat uns engagiert. Eines Nachts habe ich nur so für mich auf dem alten Klavier im völlig leeren Speisesaal gespielt. Zwei der Offiziere haben mich gehört und sich zu uns gesellt. Herwig und ich wurden in die Offiziersmesse eingeladen, und irgendwann habe ich mich auch dort an das kleine, verstimmte Klavier gesetzt, aus Spaß. Ich habe gespielt, Herwig hat mich bei den viel gewünschten Boogie-Woogies, die ja so gar nicht mein Metier sind, unterstützt: Er unten den »Duba-duba-duba«-Rhythmus, den er erstklassig beherrscht, ich oben das typische »Dinge-dinge-ling«-Geklimper, und das Ganze im Stehen, damit die Leute glauben, etwas ganz Besonderes geboten zu bekommen. Wir haben für Stimmung gesorgt und brauchten uns plötzlich über unsere Verpflegung an Bord keine Sorgen mehr zu machen. Fast wie selbstverständlich aßen wir mit der Mannschaft, bekamen Drinks spendiert, den Wodka, den es an Bord gab, manchmal Wein, Kaffee, soviel wir wollten. Wir gehörten irgendwie dazu. Wenn wir nicht in der Offiziersmesse waren, haben wir die Zeit genutzt, um Kontakte mit den Studentengruppen aus anderen europäischen Ländern zu knüpfen, die mit uns an Bord sind.
Auch dies eine neue Erfahrung für uns: der Kontakt mit jungen Leuten aus ganz Europa, die uns doch bisher eher fremd geblieben waren. Engländer, Franzosen, Belgier waren uns bisher nur als Besatzer begegnet. Zum ersten Mal so etwas wie ein echter Austausch, Gleichwertigkeit, Offenheit, Entdeckung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Die beiden anderen aus unserer eigenen Reisegruppe, Marlene und Freddy, haben wir dabei fast ein bißchen aus den Augen verloren. Dafür haben wir uns vor allem mit Robert Ohana angefreundet, einem jungen, freundlichen Marokkaner aus der französischen Gruppe, der sich uns bei der Reise durch das Land, die wir auf eigene Faust unternehmen wollen, anschließen wird. Um so besser, so verteilen sich die Kosten für den Wagen auf fünf, auch wenn wir dann etwas enger sitzen werden.
Eigentlich wollten wir nur kurz an Deck ein wenig frische Luft schnappen. Daß man schon die Lichter New Yorks sehen würde,
daran haben wir nicht so ganz geglaubt. Wir haben frühestens in zwei oder drei Stunden damit gerechnet. Aber tatsächlich, wenn man ganz genau hinschaut, weit, weit am Horizont, kann man schon Lichtpunkte erkennen! Deutlich grenzen sie sich ab von den Sternen der klaren Nacht, werden dichter und langsam auch größer. Jemand ruft etwas verfrüht »Land in Sicht!« Jubelstimmung. Man stößt mit dem dünnen Kaffee an, den es an Bord gibt oder mit Wasser oder billigem Wein. Keiner denkt mehr daran, schlafen zu gehen.
Ein älterer Mann aus Ungarn hat seine Klarinette ausgepackt, beinahe sein einziges Gepäckstück. Nur die Klarinette und ein kleines Bündel mit Kleidern. Seine Pritsche im Schlafsaal lag nahe an unserer. Wir haben ihn oft spielen gehört in den letzten Tagen. Ins Gespräch zu kommen, war unmöglich, da er kein Wort Englisch spricht und wir kein Ungarisch. Aber wir haben manchmal gemeinsam musiziert. Alte ungarische Volkslieder und gängige Schlager der Zeit. Auch jetzt stimmt er wieder ein altes Lied seiner verlassenen
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