Der Mann mit dem Fagott
der diese Lücke schließen könnte.«
Gitta sieht mich aufmunternd an. »Dann mußt du solche Texter
eben suchen. Überall gibt es talentierte Menschen. Und für den Anfang mach es doch selbst. Ich hab doch von dir schon sehr gute Texte gelesen.« Sie macht eine Pause, setzt dann beschwörend nach: »Du mußt es versuchen! Du wärst der erste, der bei uns so etwas macht, und ich bin davon überzeugt, es wäre der richtige Weg. Es wäre das Risiko wert, auch den Ärger, den du vielleicht am Anfang mit deinen Produzenten hättest, wenn du plötzlich deine eigenen Ideen umsetzt. Groß wird nur der, der etwas Neues wagt. Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom, das solltest du nie vergessen.«
Schweigend sehen wir uns an. Fühle Aufgekratztheit. Sinatra singt »You make me feel so young«. Und ich weiß, Gitta hat recht!
Der Mann mit dem Seesack in der Ecke ruft nach einem Genever. Die beiden letzten Zigaretten aus Gittas Schachtel. Ich gebe uns Feuer. Der Kellner legt uns die auf einfacher Pappe von Hand geschriebene, fleckige Speisekarte hin. Dankbar für diese Ablenkung stecken wir die Köpfe zusammen. Plötzlich sind wir beide hungrig. Der »Outsmeider« ist das Billigste auf der Karte. Ein kleines Sandwich, belegt mit gekochtem Schinken und einem Spiegelei, »Rausschmeißer« genannt, wie der Kellner uns lächelnd erklärt. Irgendwie paßt das.
»You go overseas?« will der Kellner von mir wissen, als er uns das Gewünschte bringt.
»New York!« erwidere ich voll Vorfreude.
»Wow! You will have a wonderful time there!« Irgendwann werde er auch in eines der Schiffe einsteigen und nach New York zurückgehen. Wenn er genug Geld zusammenhabe. Dafür arbeite er hier. Europa - das sei nichts für ihn. Für eine Frau sei er damals hergekommen. »Eine lange Geschichte … ein wenig traurig …« Er schüttelt die Erinnerung ab, lächelt zuversichtlich: Vielleicht noch ein Jahr oder zwei, dann reiche es für die Rückfahrkarte und für einen Neubeginn. Schließlich wolle man vor der Familie nicht als Versager dastehen. Er hält einen Moment lang gedankenvoll inne, dann strahlt er wieder. Er habe schon viele Reisende vor der Abfahrt bedient. Von überallher. Sieger und Verlierer. Wir beide würden wie Sieger aussehen, meint er geheimnisvoll. Wir würden »drüben« sehr glücklich sein. Wir nicken, wollen ihn nicht enttäuschen, ihm nicht die ganze Geschichte erzählen. Vielleicht wollen wir auch einfach in dieser Stunde nicht von Abschied sprechen.
Unser letztes gemeinsames »Abendessen« vor einem langen Sommer. Wortkarg wie selten sitzen wir einander gegenüber. Erschöpft von dem, was wir uns sagten und dem, was wir verschwiegen. Stoff zum Nachdenken. Überfordert auch von der Bedeutung des Augenblicks. Ab und zu ein hilfloses Lächeln. Besprechung dessen, was es noch zu erledigen gilt: Das Hochzeitsgeschenk für Joe, das Gitta abholen und zur Trauung mitbringen will, bei der ich nicht dabeisein kann, der Brief an meine Eltern, den ich ihr übergebe, der Kieselstein vom Strand, um den Gitta mich bittet. Nur darum. Kein anderes Mitbringsel aus Amerika. Nur dies und die Briefe, die ich zu schreiben verspreche, damit sie »ein bißchen dabei ist«.
Die Gestrandeten der Zeit
»We’ll Be Together Again« klingt der letzte Song der Sinatra-Sondersendung aus dem Radio, als wir zusammenlegen, um die Rechnung zu bezahlen. Gitta hat sich geweigert, sich einladen zu lassen, und insgeheim bin ich ganz froh darüber.
Der Kellner nimmt uns das Versprechen ab, seine Heimat von ihm zu grüßen. Er sei sich sicher, das bringe Glück. Wem, das sagt er nicht. Es spielt auch keine Rolle.
»We’ll be together again.« Die letzten Takte geleiten uns wie ein Versprechen auf die Straße.
Draußen die klare Seeluft, die erfrischt. Wohltuend nach der stickigen, verrauchten Kneipe. Der Hafen fast unwirklich im silbernen Abendlicht. Farben, die ich Manfred gern vermitteln würde.
Schiffe werden vertäut, Befehle gerufen. Die »Helsinki« immer noch am Kai. Kräne, die sie neu beladen. Ich erzähle Gitta die Geschichte meines Großvaters, erzähle von der Verbannung, der Flucht, dem angeklebten Bart, vom »Mann mit dem Fagott« und erzähle von Rußland im Zarenreich, von »Schwanensee«, von der Uhr, die Heinrich Bockelmann dem jeweils Zweitgeborenen unserer
Familie vermacht und die mein Vater mir vor kurzem übergeben hat - und vom »Geradeausgehen«. Gitta lächelt. »Das solltest du dir immer vor Augen halten: Wie wichtig es
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