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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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darauf ein Aufbau, in dem er Jazzplatten zum Kauf anbietet. Von Gerry Mulligan bis Ella Fitzgerald und von Dave Brubeck bis B. B. King ist alles dabei, was unsere Herzen höher schlagen läßt. Wühlen im reichlichen Angebot, feilschen um Preise, sind einen Augenblick lang abgelenkt.
    Geschrei auf der anderen Straßenseite, etwa zwanzig Meter von uns entfernt. Schneller, lauter Wortwechsel, von dem ich nichts außer »fucking ass-hole« und »shit« verstehe. Das erste, was ich sehe, ist ein erster, mit rückhaltloser Gewalt geführter Schlag. Ein dumpfer Schrei, ein Mann geht zu Boden. Vielstimmiges Gebrüll. Vergeltungsschläge. Frauen, die zu beschwichtigen versuchen: »Stop it!« und »Help!« und »Police!« Eine hängt sich in den Arm eines Mannes, versucht, ihn zurückzuhalten, wird beiseite geschmettert, stürzt zu Boden. Passanten bleiben in einiger Entfernung wie angewurzelt stehen. Lange Zeit bewegt sich nichts. Nur Fäuste, die auf Körper niederschnellen. Blitzende Gegenstände, die plötzlich aufleuchten. Schlagringe, Schlagstöcke. Ich glaube sogar, in einer Hand einen Revolver oder ein Messer zu sehen. Papa Dandy drängt mich weg von der Straße in einen Hauseingang. Ich beobachte wie erstarrt. Unfaßbare Brutalität. Schmerzensschreie, Stöhnen, Blut. Jemand liegt auf dem Boden. Tritte. Eine Frau schreit: »Oh my god! You’ve killed him!« Polizeisirenen, die sich nähern. Jemand läuft weg, andere treten immer noch auf den oder die Körper auf dem Bürgersteig ein. Die Sirenen verklingen. Sie galten offenbar nicht dem Vorfall hier.
    Kampf auf Leben und Tod. Ein kräftiger Stoß mit einem Messer in die Seite eines Gegners. Sekundenschnell ist das Hemd voll Blut. Es färbt die Straße, läuft den Rinnstein entlang. Wieder läuft jemand weg. Andere folgen. Frauen stürzen in einen »Meat Market« auf der Suche nach einem Telefon, um endlich die Polizei zu holen. Oder einen Krankenwagen. Blutüberströmte, gekrümmte Körper auf der Straße. Einer reglos. Sonst weit und breit niemand
mehr zu sehen. Die vorher belebte Gegend ist plötzlich menschenleer. Gespenstische Stille. Auch unser Plattenverkäufer hat mit seinem Fahrrad die Flucht angetreten.
    Stehe immer noch bewegungslos im Hauseingang. Jemand zieht an meinem Arm. Höre vertraute Stimmen, die auf mich einreden: »Come! We can’t do anything! Let’s run before the cops come! Hurry up!«
    Lasse mich wegziehen. Beginne, mit den anderen wie im Reflex zu laufen. Ein Gefühl, als gehöre mein Körper nicht zu mir. Gedanken und Gefühle wie aus weiter Ferne. Unzählige Schlägereien, in Filmen gesehen. Die Realität ist unsagbar grausamer. Schock der Wirklichkeit. Brutalität, die mir tief in die Seele gedrungen ist.
    Habe nur danebengestanden, habe nichts getan. Hätte nichts tun können, wäre nur selbst zwischen die Fronten geraten. Dennoch Versagergefühle.
    Kann plötzlich nicht mehr weiterlaufen, sinke auf einen der Treppenaufgänge vor den Häusern. Junius und die anderen umringen mich. Kinderstimmen von weit her. Hohes, glucksendes Lachen. Gefühl von Unwirklichkeit. Spüre, wie mein ganzer Körper zittert. Spüre Tränen, die sich nicht zurückhalten lassen. Junius voll Wut auf sich selbst: »You shouldn’t have seen this shit!«
    Verdrängung pur. So ist eben das Leben hier.
    Auf Bloody Mary und »girls« hat jetzt niemand mehr Lust. Das Konzert heute abend aber findet statt. Mit uns!
    »Wir lassen uns doch Count Basie nicht entgehen, nur weil sich ein paar Idioten die Köpfe einschlagen«, verkündet Jeremy. »Wenn es danach ginge, müßten wir jeden Abend zu Hause bleiben! But life goes on!«
    Irgendwie hat er recht. Alle stimmen ihm zu, sind schon wieder fröhlich. Nur ich kann noch nicht wirklich in meine Geburtstagslaune und die »Easy Going«-Stimmung von vorhin zurückfinden. Gewalt als Realität, das habe ich zuletzt als Kind am Ende des Krieges gesehen. Ein Glück, daß Herwig jetzt nicht hier ist. Das eben Erlebte, ist noch um einiges härter als seine Befürchtungen, auch wenn ich selbst nicht involviert war. Trotz allem bereue ich noch keine einzige Sekunde, die ich in Harlem verbracht habe Beschließe, Herwig vorerst nichts von der Schlägerei zu erzählen. Wozu auch?

    Ein alter Mann mit einem grauen Vollbart verkauft an einer Ecke vor einer Ampel karierte Regenschirme. Junius findet das plötzlich »cool« und will unbedingt einen als Geschenk für seine Mutter kaufen. Spüre natürlich, daß er mich nur auf andere Gedanken

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