Der Mann mit dem Fagott
tatsächlich zu gewöhnen beginnt.
Kommen an der »New York Public Library Schomburg Collection of Negro Literature and History« vorbei. Nischendenken. Eine Gruppe von schwarzen Jungen und Mädchen kommt gerade aus dem Gebäude. Eine andere Welt noch in den Blicken, von der Sonne geblendet, von der Wirklichkeit mit Straßenlärm und grellem Licht und Hitze überrollt. Ähnlich wie der Blick von Menschen, die aus einem Kino kommen, einige Augenblicke lang überfordert von der Realität, in die sie treten. Junius hat einen großen Teil seiner Kindheit und Teenagerzeit hier, in der Harlemer Public Library verbracht, mit leuchtenden Augen in die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn vertieft, erzählt er mir lächelnd, in Bücher über die Sklavenzeit und historische Abrisse über Sklaverei und Befreiung, schwarze Kultur, schwarze Geschichte. Daß man hier keine weiße Literatur, keine weiße Geschichte findet, ist für Junius und seine Freunde ganz normal - und gut. Die Schwarzen sollen sich mit ihren schwarzen Wurzeln beschäftigen, ihrer Kultur - und nicht in der Dominanz der weißen Gesellschaft untergehen. Integration dürfe nicht den Verlust der eigenen Geschichte bedeuten. Ich lerne zu begreifen.
Junius und seine Freunde sind seit meiner Ankunft bemüht, mir alles Positive in ihrem Harlem zu zeigen: pulsierende Nightclubs, Coffee Shops, Bars, Cafés mit Pool-Billard-Zimmern, in denen mit versteinerten, siegessicheren Mienen andere Kämpfe ausgetragen werden als jene mit Fäusten oder Waffen. Und natürlich den berühmten »Cotton Club«, der uns mit unseren finanziellen Mitteln freilich verschlossen blieb und die anderen Jazzclubs, in denen wir die letzten Nächte verbracht haben.
Einer davon, das »Blackbird«, völlig schwarz gestrichen, schwarz möbliert, kaum beleuchtet. Darin ein schwarzes Klavier,
auf dem ich letzte Nacht gespielt habe. Eine dieser spontanen Jam Sessions mit ihrem furiosen, unnachahmlichen Irrsinn, der mich immer wieder spüren läßt, daß ich nur in diesem Beruf leben kann. Und Gesichter, in denen ich lesen konnte, daß das Klavier mir Seelen öffnete und meine neuen Freunde zu ahnen begannen, was der Kosmos der Töne für mich bedeutet. Lebensgefühl, einzig möglicher Weg …
»You’re absolutely crazy, man«, bekam ich später voll Anerkennung von Papa Dandy zu hören. Und eine schwarze junge Frau in einem hellroten, beinahe leuchtenden Kleid. Gedanken an Adrianne Hall in Pittsburgh. Und wieder ein Augenblick der Nähe, der Grenzen überschritt.
Danach in einer Verkehrskontrolle: Eine Härte, die ich noch nirgendwo so erlebt habe. Eine Kelle, die uns aufhielt. Zwei Streifenwagen. Sofort vier Polizisten mit gezogenen Pistolen an unserem Wagen. Mußten mit auf den Kopf gelegten Händen aussteigen, uns dann an den Wagen lehnen. Man trat uns hart von innen gegen die Beine, so daß wir sie grätschten. Beine gespreizt, Hände am Wagen aufgestützt, so wurden wir durchsucht. Rauher Befehlston. Keine Erklärung. Angst, obwohl ich sicher sein konnte, daß ich mir nichts hatte zuschulden kommen lassen. Fragen, was ich Weißer hier mache. Skepsis. Durchsicht aller Ausweise, Durchsuchung des Wagens. Dann durften wir weiterfahren.
»They’re looking for drugs and arms«, ist Junius’ knappe Erklärung. Anscheinend sind Vorfälle wie dieser hier an der Tagesordnung. Keinen weiteren Gedanken wert.
Kommen wieder an einer der Kirchen vorbei, in denen ich mit Junius und seiner Familie einen Gospel-Gottesdienst besucht habe. Es wurde singend Lebendigkeit gepredigt und Frieden, Liebe und Menschlichkeit. Vielstimmig, lebensfroh, in nichts an die leidend-verbissenen Gottesdienste bei uns erinnernd, an die Selbstaufgabe, mit der man seine Würde und seine Lebendigkeit in den Kirchen meiner Heimat in endlosen, angstvoll gemurmelten Litaneien an einen Herrgott überantwortet oder an den selbstgerechten Klerus, der die »Schäflein« klein hält, »Herr, ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund«, kniend erfleht. Hier singt man stehend, strahlend, fröhlich, kleidet sich farbenfroh. Niemand
kniet. Man läßt sich hier nicht unterdrücken von der Schwere des Kreuzes an der Wand, einem der niederdrückendsten Symbole unserer Welt.
Vor der Kirche ein Mann mit weißer Jacke, grellgrünem Hemd, blauer Jeans, gelber Brille und einem dreirädrigen Fahrrad: Ein großes Rad hinten, zwei etwas kleinere vorn, vor der Lenkstange,
Weitere Kostenlose Bücher