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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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hat Morddrohungen erhalten, aber er hat unbeirrt weitergemacht, und nach über einem Jahr hat die Bewegung um King gesiegt. Es gibt seither keine Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln
mehr. Und die ›Southern Christian Leadership Conference‹ ist dabei, sich auszuweiten. Ich glaube, daß sie eine gute Sache ist.« Er hält inne, meint dann nachdenklich: »Vielleicht kann ich eines Tages für Martin Luther King und die Bewegung arbeiten. Das ist mein ›unmöglicher Traum‹«, greift Junius den Trinkspruch seiner Eltern wieder auf.
    »Also gibst du doch zu, daß dieses Land ein Rassenproblem hat?« frage ich ihn nach einer kurzen Pause direkt.
    Junius blickt mich ruhig an, dann nickt er langsam. »Natürlich gibt es das, aber wem hilft es, darüber zu lamentieren? ›Try to make the best out of it‹, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Jeder muß in dieser Stadt, diesem Land mit seiner Hautfarbe und seinen Fähigkeiten eben seinen Platz und seinen Weg finden. Ihr Europäer seht das immer so schrecklich sentimental. Aber mit Sentimentalität ist da nichts zu machen.«
    Ein Augenblick gemeinsamen Schweigens, zerrissen vom Klingeln der Türglocke. Die anderen warten schon auf uns.
    Man hat von Gang-Krawallen entlang unseres Weges zum Apollo gehört. Müssen eine andere Route nehmen, die uns ein kurzes Stück durch eine der Slum-Gegenden führen wird.
    Auch abends überfüllte Straßen, Straßenmusiker, Marktschreier, Jugendliche auf den Basketballplätzen. Je näher wir der Slum-Gegend kommen, desto verwahrloster werden die Straßen. Holprige Lehmfahrbahnen, Gehwege, vom Müll überhäuft. Menschen, die überall dort Zuflucht gesucht haben, wo sie sich ein wenig geschützt fühlen: unter den Treppenaufgängen der Häuser, in Bretterverschlägen, Mauervorsprüngen, Nischen. Von Mietern und der Stadt aufgegebene Straßenzüge. Menschen in Lumpen gehüllt. Leere Augen, die uns anstarren. Rauch und Flammen aus einer brennenden Mülltonne. Man schützt sich gegen die einsetzende Kühle des Herbstes. Eine Betrunkene weint laut. Plötzlich, direkt neben mir, das laut schlürfende Geräusch eines Kanaldeckels. Mache erschreckt einen Satz zur Seite. Zwei schmutzige Hände, die das Gitter anheben, beiseite werfen, dann ein schmutzverschmierter Kopf, vom Abendlicht offensichtlich geblendete Augen, ein ausgemergelter Körper, der sich mühsam aus der Enge der Öffnung stemmt, schwankend und hinkend hinter der nächsten Ecke verschwindet.

    »He’s a mole - ein Maulwurf«, erklärt Junius knapp. Menschen, die sich in den Tiefen der Kanalisation oder der U-Bahn-Schächte in Hohlräumen eingenistet haben. Obdachlose, die hier ihre Bleibe finden. Es heißt, daß tausende Menschen im Untergrund dieser Stadt leben. Für Junius’ Vater in den unterirdischen Abschnitten des »A-Train« immer wieder beunruhigende Begegnungen. Und Ärger, wenn einer nicht aufpaßt, auf die Gleise torkelt, überfahren wird. »Homeless and Rats«, wird lapidar zusammengefaßt was eben nicht zu ändern ist. Hier liegen die Wurzeln des »Blues«, denke ich mir. Die andere Seite Amerikas. Dort, wo Glanz und Erfolg Menschen an den Rand gespült haben, dort, wo der Mensch nur noch mit zynischer Betrachtung als Meister seines eigenen Schicksals gelten kann. Dort, wo es keine Sicherheitsnetze gibt, wo Traurigkeit und der Staub der Straße sich in Tönen aufbäumt, wo die Trostlosigkeit in Trotz aufgelöst wird, der über die Resignation siegt. Ein gemeinsames Lebensgefühl in der »Blue Note«, dem Moll-Ton im Dur-Klang des Daseins, traurig und doch nicht hoffnungslos, einsam und doch getragen vom Chor derer, die das Schicksal und die Lebenserfahrungen hier, »ganz unten«, teilen.
    Unser Weg mündet auf die 5 th Avenue, die hier, mitten in Harlem, alles von ihrem legendären noblen Flair eingebüßt hat. Müllsäcke, zum Teil von Homeless aufgerissen oder von Ratten aufgebissen. Häuser, die einzustürzen drohen, aber offenbar von Dutzenden Menschen bewohnt werden. Wäscheleinen an Häuserfassaden zwischen Feuerleitern und Balkonen. Dazwischen mit Brettern vernagelte Fenster. Kaum mehr vorstellbar, welche Renommiermeile diese Straße nur einige Kilometer weiter südlich ist und wie wenig ein Bewohner der 5 th Avenue hier, weit im Norden mit einem Bewohner der gleichen Straße dort südlich gemein hat.
    Nicht einmal die in New York erhältlichen Stadtpläne dieser Stadt reichen so weit bis nach Norden. Sie enden alle auf Höhe der 100. oder höchstens

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