Der Mann mit dem Fagott
unauffällige, kleine Sharky durch seine Zahnlücke. Anscheinend befinden wir uns ganz nah an der Grenze zum puertoricanischen Viertel. Man geht sich aus dem Weg. Besonders in meiner Anwesenheit. Weiße sind hier, im tiefsten Harlem, immer ein Potential für Ärger, und so lange ich jetzt hier bin, habe ich auch noch keinen einzigen gesehen. Mit mir im Schlepptau bietet die Clique um Junius Angriffsfläche. Bin mir dessen bewußt. Sinnlos, darüber zu sprechen. Zugeben würden sie es nie, und ändern läßt es sich auch nicht.
Ein Junge wirft mir seinen Football zu und freut sich spitzbübisch, als ich ihn ihm zurückwerfe.
Vor den Häusern da und dort Gruppen von Frauen in Gespräche vertieft. Ein typisches Bild in dieser Gegend. Die etwas bessergestellten in unglaublich bunten Kleidern und mit abenteuerlichen Hutkreationen. Junge Typen mit buntgeringelten Häkelmützen. Im Augenblick hier wohl der letzte Schrei. Ein Erfrischungsstand mit eisgekühlten Fruchtsäften. Überall kleine Straßenhändler, die Kleidung verkaufen, je bunter, desto beliebter. Eine junge Frau in Lockenwicklern. Man scheint diese Dinge hier nicht so eng zu sehen. Weiter vorn spielt eine kleine Dixieland-Band.
Plötzlich eine fast romantisch anmutende Wohnstraße: dreistöckige, reichverzierte Jahrhundertwende-Häuser, manche von Efeu bewachsen, Treppenaufgänge mit verschnörkelten Geländern, kleine Vorgärten, da und dort sogar eine Steinfigur, ein Löwe oder ein Schwan. Früher wohl von bessergestellten Familien erbaut und bewohnt, ist ein Haus in dieser Straße immer noch eine für Harlem gute Adresse, doch die Figuren in den Gärten sind verwittert, herunterhängende Fensterläden, brüchige Fassaden. Auch hier Spuren des Verfalls.
»Niemand hier kann es sich leisten zu renovieren. Jeder muß sehen, daß er durchkommt«, erklärt mir Junius das Unübersehbare.
Ein kleines Mädchen kommt, nachdem es uns lange Zeit mit seinen Freundinnen tuschelnd beobachtet hat, einfach auf mich zu und fragt, wer ich sei und ob ich mich verlaufen hätte. Das sei ihr nämlich auch schon mal passiert. Meine Antwort, »No, everything’s okay. I‘m just here to see my friends«, bringt ein breites Lächeln in ihr Gesicht.
Ein paar Straßen weiter drängen sich Jugendliche um einen der Hydranten. Mit Eimern wird Wasser für die Familie geholt. Anscheinend gibt es in einer der Straßen mal wieder ein Problem mit der Wasserversorgung, meint Junius.
Erstaunlich viele schwarze Juden überall hier in Harlem. Bis vor ein paar Tagen hatte ich keine Ahnung, daß es schwarze Juden überhaupt gibt, zumal Rassenkonflikte in Amerika häufig gerade zwischen Schwarzen und Juden ausgetragen werden. Überraschende neue Eindrücke: schwarze Männer mit breitkrempigen Hüten, schwarzen Anzügen, den typischen Locken, Jungen mit Hemd, Fliege und der flachen Mütze auf den Köpfen. Immerhin war Harlem zu Beginn des Jahrhunderts ein hauptsächlich jüdisches Viertel, erklärt mir Junius. Viele ehemalige Synagogen sind zu katholischen oder baptistischen Kirchen umgebaut worden, doch die jüdische Kultur existiert hier noch. Ob Junius und die anderen Kontakt zu ihr haben? Man winkt ab. »It’s a completely different world.«
Auch hier also kaum Berührungen. Abgrenzungen allerorten.
Jugendliche auf einem der riesigen eingezäunten BasketballPlätze.
»Die Gang, die diese Straße beherrscht, hat auch das Recht auf ›ihren‹ Platz«, klärt Jeremy mich auf. Basketball ist neben Boxen und Musik das Wichtigste in Harlem, meint Junius. Wer groß ist und gut mit dem Basketball wie Junius‘Idol Wilt Chamberlain, der Star der »Harlem Globetrotters« oder schnell und treffsicher mit den Fäusten wie einst das Box-Schwergewicht Joe Lewis, von dessen Kämpfen Papa Dandy immer noch schwärmt, oder ein Talent auf dem Saxophon, der Trompete oder dem Klavier wie all die Jazzgrößen, die auch mein musikalisches Weltbild entscheidend geprägt haben, hat hier die besten Chancen, Geld zu machen, wegzukommen
von hier, vielleicht sogar Millionen zu verdienen. Träume von der großen Sport- oder Musikkarriere, die alle Möglichkeiten eröffnet, die den Jungen in dieser Gegend sonst für immer verschlossen bleiben, »American Dream« hin oder her. Karrieren in Musik- und Sportbusiness scheinen sich doch manchmal erstaunlich ähnlich zu sein.
Überall Mülltonnen mitten auf dem Weg, manche umgekippt. Immer wieder wühlen Homeless darin. Ein Bild, an das man sich nach ein paar Tagen
Weitere Kostenlose Bücher