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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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der 107. Straße, dort, wo Harlem beginnt. Im letzten, nordöstlichen Winkel der Karte steht noch »East Harlem« zu lesen. Mehr braucht der New York-Besucher nicht zu wissen. Und als ich mich in Manhattan mit einem Plan von Harlem versorgen wollte, erntete ich nur Verständnislosigkeit. Es lohne sich nicht, dorthin zu fahren. Dort gebe es nichts zu sehen, und gefährlich sei es außerdem. Aber der Norden dieser Stadt existiert! Er existiert,
bis weit über die 140. Straße hinaus, auch wenn die Karten das verschämt verschweigen.
    Das Apollo in der 125. Straße. Eingerahmt von normalen Wohn- und Geschäftshäusern. Nur das über den Köpfen der Menschen ein Stück weit in den Bürgersteig reichende Entré mit der beleuchteten Aufschrift »Apollo Theater« und die Leuchtreklame an der Fassade verraten, daß es sich um ein Konzertgebäude handelt. Keine indirekte Beleuchtung, die das Gebäude anstrahlt, als würde es aus sich selbst heraus leuchten. Keine Apollo-Statue, keine Musen auf dem Dach, keine griechischen Säulen, kein großer Treppenaufgang. Bescheiden in eine Straßenreihe etwas verlotterter Mietshäuser geduckt, von außen mehr wie ein Kino dritter Klasse wirkend, liegt es vor uns, in dem der Blues und Jazz ein klingendes Zentrum hat, einen Ort der Bewährung. Von hier aus hat er seinen Siegeszug um die ganze Welt, sogar bis ins ferne Klagenfurt angetreten. Hier ist das eine oder andere Stück, der eine oder andere ganz neue Sound, die eine oder andere neue Stimme zum ersten Mal vor Publikum erklungen.
    Fasziniert stehen wir vor der Aufschrift, die in Riesenlettern die Attraktion des heutigen Abends verkündet. »Tonight: Count Basie« und etwas kleiner darunter: »… and his Orchestra«.
    Kann es fast noch nicht glauben, hier zu sein. Junius erzählt von den Nachwuchsabenden im »Apollo«. Jeden Mittwochabend entscheidet ein gnadenloses Publikum über bejubelten Triumph oder schmachvolle Niederlage eines Nachwuchs-Performers, und wer es am Mittwoch im »Apollo« geschafft hat, der hat vielleicht eine kleine Chance, bei einer Plattenfirma wenigstens vorgelassen zu werden. Und er erzählt von den »Untergrund-Konzerten« in Privatwohnungen, die in Harlem seit Jahrzehnten eine Jazzkultur geschaffen und damit das »Apollo-Theater« vielleicht überhaupt erst möglich gemacht haben. Man lädt befreundete Musiker in eine der Wohnungen ein. Die Orte sprechen sich herum. Ein paar Cent Eintritt, dichtgedrängte Menschen in den Wohn- und Schlafzimmern im tiefsten Harlem. Die Einnahmen werden geteilt: ein paar Dollar für die Musiker, der Rest für den Wohnungsmieter. Und die Chance, sich unter Insidern einen Namen zu machen. Eine Referenz, wenn das »Apollo-Theater«, der »Cotton-« oder sonst ein Club Musiker für die Hausband sucht. Die Größten der Großen
haben so angefangen - und nicht selten kommen sie zurück. Sie geben ein Konzert, im »Apollo« oder irgendwo in der Stadt - und spielen dann nachts noch in einer der Wohnungen, für ihre Freunde, die so wieder ein paar Wochen lang ihre Miete zahlen können. Auch heute noch könnte man also in irgendeiner engen Privatwohnung Ella Fitzgerald begegnen oder Oscar Peterson. Das ist Harlem.
    Kultur, die hier entsteht, irgendwo nördlich der 107. Straße, dort, wohin die Stadtpläne Manhattans nicht reichen. Ein geheimnisvolles Niemandsland, so scheint es manchmal. Und ausgerechnet hier, in diesem »Niemandsland« zwischen verlotterten Häusern, vernagelten Fenstern, in der Enge kleiner Wohnungen, auf Hinterhöfen, in einer vom Existenzkampf geprägten Atmosphäre wird Musik, »echte« Musik, Jazz, Blues, Swing zum Lebensinhalt. Musik, die tief in die Seele dringt, die neu ist und aufregend und authentisch.
    Echte Kreativität entwickelt sich an Orten wie diesem, so scheint es mir, in Harlem und anderswo, dort, wo man dem Staub unter der Tischplatte näher ist als dem noblen Tafelsilber, wo Musik noch eine Lebensform ist, ein Mittel, um als Mensch zu überleben, um nicht im Sumpf von Aggression, Resignation und der Enge der Häuser zu ersticken, um aus all der Wut und Aussichtslosigkeit etwas entstehen zu lassen, was befreit, wenigstens für die Dauer eines Songs. Keine Armutsromantik, sondern Erkenntnis der Wurzeln dessen, was Kunst zu einer Haltung macht, nicht zu einer leeren Attitüde vermeintlich besserer Kreise, für die sie allzuoft nur noch Anlaß ist, sich im schönsten Kleid und Schmuck zu zeigen, bevor man sich selbst beim noblen Abendessen

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