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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Piano solo, leicht über sein Klavier gebeugt, wie auf all den Photos. Keine Pose, lässige Konzentration. Töne, die bis ins Mark zu dringen scheinen. Noch nie erlebte Spannungsbögen. Totale Zurücknahme, Verzicht auf jeden Showeffekt, weniger ist mehr. Smoking als Hommage an die klassische Musik. Schlicht, auch hier keine Effekthascherei. Lebendigkeit. Gefühl von purer Ehrlichkeit. Nicht nur ein Spiel um die beste Wirkung.
    Spannung, die sich in den Gesichtern spiegelt, in den Körpern, einbezogen in das Geschehen auf der Bühne, wie ich es noch nie erlebt habe.
    Nur ein leichtes Nicken mit dem Kopf, eine kleine Geste mit der Hand in die Richtung der Trompeten und Posaunen: Ein Bläserstoß
wie eine Explosion. Überfallartig. Nach hinten abstürzend wie ein Wasserfall, der im Aufschrei des Publikums untergeht. Das ist Count Basie! Und die Sprache seines neuen, jungen Arrangeurs Quincy Jones, gerade mal 24 Jahre alt und schon jetzt ein Sound, der aufhorchen läßt, ein Klang, der den Jazz in die Zukunft führen wird.
    Die Zuschauer im Sturm totaler Begeisterung. Wogend im Rhythmus des Swing, tanzend, Phrasen mitsingend. »Yeah, give it to me!« Dann wieder ganz still, voll Spannung lauschend, um beim furiosen Schlagzeugsolo aufzuspringen. Ganz im Rausch der Trommeln. Pure, peitschende Kraft.
    Im Publikum wird geraucht. Männer mit selbstgedrehten Zigaretten, die aussehen wie die russischen Papirossy, die mein Großvater und auch mein Vater uns immer wieder beschrieben hat. Sogar Frauen mit Zigarren. Jeder feiert den Abend auf seine Weise.
    Großes, elektrisierendes Orchester-Tutti. Wilde Akkordfolgen in atemberaubendem Tempo. Melodienbögen wie bizarre Gebirgslandschaften. Unbezwingbar und keines Wortes bedürftig. Dahinter Klangflächen wie geheimnisvolle Schattenrisse. Konturen von Klängen. Bekenntnisse. Stechende, raumfüllende Saxophonwogen. Überraschende Wendungen. Wechselbad der Emotionen. Ein Trompeter singt einen Scat-Vocal-Teil.
    Papa Dandy an der Tür ist in einen swingenden Tanzrhythmus verfallen, anscheinend ohne es überhaupt zu merken. Skurrile Schrittfolgen und Drehungen mit ausgebreiteten Armen. Der Hut ist ihm tief in die Stirn gerutscht.
    Im Publikum fliegt alles mögliche durch die Luft. Hüte, Jacken, Mützen, sogar Schuhe. Entfesselte Menge.
    Dann ein Zeichen an einen der Saxophonisten. Betont lässig schlendert er nach vorn. Wie die anderen Solisten vor ihm. Kein großer Auftritt, keine betörenden Lichteffekte. Kein Walhalla inszenierter Heldenverehrung. Nur Klang. Farben der Musik. Rein, intensiv, bodenlos. Er beginnt sein Solo mit einer Tonfolge, die drei verschiedene Harmonien durchdringt, landet auf einem schier endlosen Falsettton. Der Saal gerät in Raserei, die auch mich immer mehr erfaßt. Scheine schon nicht mehr auf dem Boden zu stehen. Musik, die mich trägt, von jeder Schwerkraft befreit.
    Das furiose Solo endet in einem zweitaktigen Riff, der von den anderen
Saxophonen unisono übernommen wird. Als auch die Posaunen und schließlich die Trompeten in dieser Figur landen, steigert sich die Intensität ins schier Maßlose. Schweben pur. Kindheitsphantasien, endlich wahr gemacht. Heute, an meinem 23. Geburtstag.
    Der Raum hebt ab, mit jedem Ton der Bläser, jedem subtilen Klavierakkord, jedem Schlag auf die Becken und Felle, jedem Trompetenstoß. Harmonien wie Wind unter den Flügeln der Zeit. Kein Zweifel mehr: Das »Apollo-Theater« hat sich aus der 125. Straße inmitten der heruntergekommenen Miethäuser erhoben, um hoch über dem Boden, hoch über der Skyline dieser Stadt irgendwo in die Wolken zu gleiten. Mit jedem Ton höher und sicherer, schwebend im Himmel des Klanguniversums.

»A good old friend is going home«
    Tiefe, rötlich gefärbte Nacht über New York. Merkwürdige Stille des Abschieds. Alles Wichtige ist schon gesagt worden. Monotones Dahingleiten. Rücklichter von anderen Wagen. Leuchtende Ampeln. Reklameschilder. Das rhythmische Aufleuchten des Gegenverkehrs. Ein eigenartiger, aufgeregter, blinkender, tonloser Riff.
    Musik aus dem Autoradio: Das neue amerikanische Rock-Idol Elvis Presley: eine Art verflachter Rhythm and Blues, ähnlich, wie man es schon von B. B. King gehört hat, nur mit butterweicher Stimme interpretiert. Leichter konsumierbar als sein schwarzes Vorbild, an ein weißes Publikum gerichtet, was vielleicht das Geheimnis seines unglaublichen Erfolges ist. Klingt nach Millionengeschäft aber nicht nach Ursprünglichkeit. Eine neue Zeit der

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