Der Mann mit dem Fagott
feiert.
Auch Mozart war zeit seines Lebens den Hinterhöfen, dem Staub, der Enge und dem glanzlosen Alltag näher als der vornehmen und blasierten Gesellschaft, die ihm damals zum Überleben diente und ihn heute zu ihrer Ikone gemacht hat. Es waren die Existenzkämpfe, die auf die eine oder andere Art die Melodien von Brahms bis Beethoven, von Bach bis Mozart, von Tschaikowskij bis Liszt oder von Johann Strauß bis George Gershwin so bleibend und wahrhaftig gemacht haben. Kunst auch immer als Überwindung von Leid, Beklemmung, Grenzen. Das ist es, worauf es ankommt. Das ist es, was die Wurzeln des Jazz geschaffen hat und was die Seele berührt.
Gerade heute, nach der schockierenden Erfahrung des Nachmittags, habe auch ich stärker denn je das Bedürfnis nach Musik. Möchte sie hören, fühlen, eintauchen. Und ich werde sie hören. Inmitten meiner neuen schwarzen Freunde, die mich ohne jedes Vorurteil, ohne irgendetwas über mich zu wissen, aufgenommen haben, als wäre ich schon seit langem einer der ihren.
Schlangen vor den Türen. Auch wir drängen uns ins Foyer. Es scheint schon lange nur noch vorbestellte Karten zu geben. Ausverkauft. Nichts zu machen. Etliche Besucher werden wieder weggeschickt. Hoffentlich hat Papa Dandy sich mit dieser »Einladung« nicht zuviel vorgenommen.
Bilder an den Wänden zeugen von all den Großen, die hier schon gespielt haben: Von Billie Holiday, der weiblichen Urstimme des Jazz, bis zu James Brown, dem Urschrei des Rhythm and Blues. Von Oscar Peterson, schon jetzt einer Legende am Klavier bis zu seinem Vorbild, dem blinden Pianisten Art Tatum, virtuos bis zur Unglaublichkeit und überraschend in der Harmonik wie kein anderer. Vom Steptänzer Bill Bailey bis zu Lionel Hampton mit seinen perlenden Xylophon-Kaskaden. Vom wie kein anderer singenden und tanzenden Sammy Davis jr. und seiner Mutter Martha Davis, einer exzellenten Jazzpianistin und Sängerin, bis zum Show-Jazzsänger Cab Calloway, immer im weißen Frack. Von Duke Ellington, B. B. King, Louis Armstrong und natürlich von der rauchig-samtigen Stimme Nat King Coles ganz zu schweigen. Und auch Count Basies Lehrer Fats Waller ist tief in diesem Hause verwurzelt, hier, unter Apollos Dach.
»May all your dreams come true, especially the impossible ones«, klingt der Trinkspruch der Chambers’ zu meinem Geburtstag noch in mir nach. Der »unmögliche Traum« - einmal für einen der Großen in diesem Schaukasten einen Song zu schreiben, das wäre solch ein »impossible dream«. Meine Töne aus dem Mund eines dieser ganz Großen zu hören, ein Song von mir, interpretiert von Nat King Cole oder Louis Armstrong oder Sammy Davis jr. Einen von ihnen mit meiner Musik zu erreichen. In einen Dialog zu treten, der keine Grenzen kennt, eine gemeinsame Sprache zu finden, die sich über alle Schranken hinwegsetzt. Träume, über deren Unerfüllbarkeit ich lächeln muß. Konzentriere mich lieber auf das Naheliegendere: auf diesen Abend, dieses Konzert, diesen Traum, der erfüllbar scheint.
Warten bei einer Cola. Langsam leert sich das Foyer. Die Menschen drängen in den Saal. Von drinnen hört man schon Klatschen, Rufe, Jubel, bevor noch ein Ton erklungen ist. Mißtrauische Blicke der Kartenverkäuferin, die die Rolläden ihres Schalters schließt, irgendwohin verschwindet.
Rhythmisches Klatschen, »Basie! Basie!«-Rufe. Der Saal scheint schon jetzt eine Art Tollhaus zu sein. Papa Dandy in Platzanweiseruniform, aber mit seinem unvermeidlichen weißen Hut auf dem Kopf, an einer der Treppen. Er bedeutet uns mit einer Geste, noch einen Augenblick zu warten. Alles okay, ein paar Minuten noch.
Ein Aufschrei wie ein Orkan sagt uns, daß »The Count« und das Orchester die Bühne betreten haben. Unverzüglich beginnt die Rhythmusgruppe zu spielen. Ich kann es nicht erwarten, endlich hineinzukommen. Schon dringen die ersten Töne des Klaviers zu uns heraus, sparsam und auf den Punkt, wie es Basies Art ist, wie Nadelstiche, intensiv, Akkorde nur angedeutet.
Papa Dandy gibt uns ein Zeichen: schnell. Niemand im Foyer, der uns sehen könnte. Laufen die Treppen hinauf. Die Tür zum obersten Rang steht schon offen. Menschen dicht gedrängt. Quetschen uns dazu.
Publikum in bunter Kleidung, Mützen und Hüte auf den Köpfen. Drängen uns bis an die Brüstung vor. Staune nach der nüchternen Fassade über den fast prunkvollen Theaterraum: rote Samtsitze, Stuck an der Decke, Goldverzierungen. Wunderbar nostalgisch und elegant.
Count Basie, immer noch
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