Der Mann mit dem Fagott
Europa zu geben. Die gesamte Nachbarschaft von Junius hat sich versammelt: Junius’ Eltern, Freunde, Menschen, denen ich täglich vor ihren Häusern begegnet bin, ganze Familien samt Kindern; mindestens 25 Menschen sind gekommen, um mir Lebewohl zu sagen.
Umarmungen. Stammle Dankesworte.
»Don’t talk shit, man! Move your white ass back to Europe!« Papa Dandy drückt mich fest an sich, Junius umarmt uns beide.
Irgend jemand beginnt zu singen: »A good old friend is going home, hallelujah - - A good old friend is going home, hallelujah«, und alle stimmen in einen spontan improvisierten A-Capella-Chor ein, klatschen rhythmisch dazu. Lachende Gesichter. Gefühle, für die ich keine Worte kenne.
Dutzende Hände, die winken, als der Bus sich mit einem schmerzlichen Ruck in Bewegung setzt. Menschen, die kleiner werden und kleiner und schließlich in einer Kurve verschwinden. Vor mir Europa, hinter mir das Land meiner jugendlichen Träume.
Die Erinnerungen an Baudenkmäler, an das künstlich-pompöse Las Vegas, sogar an Hollywood und an die Niagara-Fälle, vielleicht auch die Erinnerung an den Blick über New York vom Empire State Building aus wird wahrscheinlich irgendwann verblassen, zu einem bloßen »Dort bin ich auch gewesen« verkommen, von keiner Lebendigkeit mehr getragen. Doch die Zeit in Harlem, die Freundschaften, die man mir hier geschenkt hat, haben meinem Blick auf die Welt eine neue Perspektive gegeben und unauslöschliche Spuren in meine Seele gezeichnet.
Ruhig und gleichmäßig, einschläfernd schaukelnd bahnt der für Europäer ungewohnt luxuriöse Greyhound-Bus sich seinen Weg durch die Nacht. Dunkelheit vor den Fenstern. Durch meinen Kopf schwebende Bilder: Die Freiheitsstatue im Nebel. Der zerlesene Zettel in der zitternden Hand des polnischen Kellners. Der Klang der Hymne aus ungezählten Kehlen, während die »MS Waterman« New York erreichte. Ein schwarzer Junge mit einem Football in Harlem. Ein Teller Spaghetti in Little Italy. Der tote Körper unter dem roten Tuch. Kinderlachen. Brutalität. Blut, das in den Rinnstein sickert. Töne von Count Basie. Der Blick Adrianne Halls in der Midway Lounge, der mich umschloß. Ein schmaler, schmutziger Körper, der aus einem Kanalloch kriecht. Papa Dandys swingender Gang …
Pochendes Kaleidoskop in meinem Kopf. Irgendwo zwischen Wachen und Träumen. Was liegt hinter mir, was vor mir? Versinkende Gegenwart, nachts in einem Bus unterwegs durch ein unermeßliches Land. »Unermeßlichkeit«, denke ich, scheinbar zusammenhanglos. Trunken von diesem Land, der Zeitlosigkeit dieser Nacht, die mich zurück in meine Welt bringt.
»Zu Hause«, hämmert es in meinem Kopf. »Europa.« Meine
Wurzeln. Gedanken, schon fast geträumt. Der Erker des Schlosses. Mein kleiner Bruder, der den Globus mit seinen Fingern dreht, um Amerika zu suchen. Das Ticken und Bimmeln und Summen der Uhr. »Puste, Junge! Fester!« Die Stimme meines Vaters. Und die meines Großvaters, die präsenter geblieben ist als sein Bild, an das ich mich nur noch schemenhaft erinnern kann: ein mächtiger, großer Mann, der sich wie ein Schattenspiel vor den Fenstern des Schlosses in Ottmanach abzeichnet. Mein Vater am Sonntagmorgen, nach Kölnisch Wasser duftend. Seine Stimme, die Gorkij zitiert und uns von unserem Großvater erzählt. Vom zaristischen Rußland, vom Bolschoj-Theater und vom Geradeausgehen. Die Raritätenschachtel mit ihren Schätzen. Das verlassene Schloß meiner Kindheit. Patsys Brief. Der Mann mit dem Fagott. Und immer wieder Klänge, die ich in mir erahne, flüchtig und ungefähr, und doch Töne, die meiner Zukunft eine Richtung geben und eine Hoffnung.
6. KAPITEL
Ottmanach und Berlin, September 1944 bis Januar 1945
Rassenkunde
Spätsommer. Wir schreiben das Jahr 1944. Ich werde bald zehn Jahre alt. Die Welt ist im Krieg, aber das ist ja nichts Besonderes. Ich kann mir ein Leben ohne Krieg irgendwie gar nicht vorstellen. Das muß komisch sein, ein Leben ohne Krieg. Ich liege in der Wiese im Obstgarten von Schloß Ottmanach. Dichte Baumkronen gegen den strahlenden Himmel. Laut zirpende Grillen im nahen Wald. Vogelgezwitscher. Ansonsten Stille.
Die Arbeit auf den Feldern ist getan. Die Ernte ist eingebracht. Unsere Landwirtschaft produziert kriegswichtige Güter, Ernährung für die Soldaten an der Front - und natürlich für die Zivilbevölkerung. Jeder wird gebraucht, auch wir Kinder. Für die Feldarbeit gibt es schulfrei. Was wir selbst behalten dürfen, ist vom
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