Der Mann mit dem Fagott
Kommerzialisierung von Blues- und Jazzelementen in einem modisch eingängigen, vordergründigen Stil, Rock’n’ Roll genannt, scheint angebrochen zu sein.
»What a Fuck«, murmelt Papa Dandy gelangweilt von hinten, während Junius bereits wortlos einen neuen Sender sucht.
Nachrichten. Unpünktlich wie meistens in diesem Land. Little
Rock nur noch als Randbemerkung. Man betet um Frieden. Als ob die Kraft von Menschlichkeit und Toleranz nicht ausschließlich in jedem einzelnen Menschen läge. Die Top-Meldung: Die Russen haben einen Satelliten namens »Sputnik« ins All geschossen. Die USA wollen in Kürze nachziehen. Man darf den Gegnern im Kalten Krieg schließlich keinen Vorteil lassen. Eroberung des Weltraumes. Irgendwo da oben kreist jetzt also eine sowjetische Kugel, die irgendwelche Daten über die Welt und das All sammelt. Distanzen verschwinden, Unmögliches wird möglich, aber die menschliche Kluft zwischen West und Ost, zwischen Menschen und Menschen scheint unüberbrückbar. Denke an die Wunde, die man Deutschland schlägt. Wie das wohl weitergehen wird mit diesem unwürdigen Zonenzustand? Doch noch trennen mich Tausende Kilometer von Europa, von Deutschland. Noch bin ich hier, in New York. Letzte Augenblicke in dieser Stadt.
Mein Koffer liegt seit Stunden im Kofferraum. Habe meine Freunde von meinen letzten Dollar zu einem Abschiedsabend ins »Blue Note« im weißen Greenwich Village eingeladen. Wollte die Stadt, die Musik auskosten bis zur letzten Minute. Und wurde durch einen Auftritt von Chet Baker und Gerry Mulligan belohnt. Die Götter des Cool Jazz. Weiß und trotzdem authentisch. Eine Offenbarung und der denkbar passendste Abschluß meiner Tage in diesem Land.
Nun wird es Zeit. Junius und die anderen bringen mich zum Greyhound-Busbahnhof. In weniger als einer Stunde wird mein Bus abfahren, der mich zu meinem Schiff nach Montreal bringen wird. In weniger als 24 Stunden werde ich auf diesem Schiff meine Heimreise antreten, und in knapp zwei Wochen werde ich wieder in Europa sein, zu Hause, vielleicht bei Gitta …
Gemischte Gefühle.
Letzte Blicke aus dem Fenster auf diese Stadt. Ein Land, das mir Rätsel aufgibt, heute sogar noch viel mehr als früher, als ich es nur aus der Ferne unkritisch verehrt habe. Die vollendete Demokratie, die große Freiheit, die das Land sich auf die Fahnen geschrieben hat, habe ich hier nicht gefunden. Und auch nicht die vielzitierten »unbeschränkten Möglichkeiten«, die doch mehr ein Mittel zu sein scheinen, um die Härte dieser Gesellschaft, die niemanden auffängt, zu tarnen. Ein Land ohne Mitgefühl, aber auch ohne
Neid. Nur Sieger und Verlierer. Trotzdem: Wenn man an die eigentlich aus dem Frankreich des späten 18. Jahrhunderts stammenden Begriffe »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« denkt, denkt man heute an Amerika. Als hätten die Franzosen diesem Land mit der Freiheitsstatue auch ihre Maxime übergeben. Werte der Sehnsucht, die hier ebensowenig verwirklicht sind wie anderswo, die aber hier mehr als sonst irgendwo auf der Welt in den Köpfen und Herzen der Menschen eine Heimat gefunden haben.
Ein letztes Mal vorbei am »Camel-Smoker« am Times-Square. Ein später Schuhputzer vor einem Kino, der seinen Laden für heute schließt. Ein Zeitungsjunge mit den Nachrichten des neuen Tages. Ein Mann im schwarzen Anzug, mit Hut und weißem Schal auf einer der Treppen vor einem Haus sitzend, den Kopf in eine Hand gestützt, eine in braunes Packpapier gewickelte Flasche in der anderen, offenbar einen schlechten Abend ertränkend. Menschen, Gesichter, Schicksale. Wir lassen sie alle hinter uns. Unzählige Geschichten, die diese Stadt schreibt. Nur wenigen bin ich auf die Spur gekommen.
Der Busbahnhof in Harlem liegt kalt beleuchtet vor uns. Ein bißchen wie ein forderndes Monument aus einer anderen Welt, denke ich, als wir aussteigen, durch den unbelebten, schmutzigen Schalterraum gehen, vorbei an einigen in den Ecken zusammengekrümmten Gestalten, die hier ein wenig Schutz suchen.
Kahle, phantasielose, eckige Säulen, Warteplätze. Biegen um eine Ecke - und finde mich plötzlich Dutzenden Menschen gegenüber, die mich mit großem Jubel empfangen. Wage meinen Augen nicht zu trauen: Jeder, mit dem ich in den vergangenen Tagen in Harlem auch nur ein paar Worte gewechselt hatte, ist mitten in der Nacht zu diesem Busbahnhof gekommen, um mich zu verabschieden, um mir einen letzten Händedruck, eine letzte Umarmung, ein letztes »Good bye and good luck« mit nach
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