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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Reichsernährungsamt streng reglementiert und wird überwacht. Manchmal, bei der anstrengenden Arbeit auf den Feldern, stelle ich mir vor, wie die Rüben oder Kartoffeln, die ich mit Joe und den anderen Kindern ernte, irgendwo an der Front ankommen. »Heimatfront« nennt man das.
    Die Felder unseres Schlosses reichen bis an den Horizont und über ihn hinaus. Ein riesiges Gut. Mein Vater sagt, das kommt nur mir so groß vor. Tausend Morgen Land und Wald. Für mich ist das unermeßlich viel. Wohin ich auch blicke, Felder, die zu unserem Gut gehören. Mit Mais, Getreide, Kartoffeln, Rüben und dreitausend Obstbäumen.
    Siebzehn Kilometer über Schotterwege entfernt liegt Klagenfurt,
die Gau-Hauptstadt. Und viele Kilometer weiter im Westen und im Osten die Front. Allerdings scheint sie in den letzten Wochen immer näher gerückt zu sein. Aber über den Krieg und über Politik wird nicht gesprochen. Wir sollen so wenig wie möglich davon mitbekommen, das spüre ich. Den riesigen Volksempfänger anzustellen, der im Herrenzimmer steht, ist uns ohne Erlaubnis der Eltern verboten. Und wenn wir es heimlich doch tun, dringen nur lautes Rauschen, Donnern, Wüten - und Marschmusik aus dem Apparat. Warum die, wenn sie was reden, immer so brüllen, weiß ich nicht. Vielleicht, damit man sie auch wirklich überall hört.
    Manchmal verstummen Gespräche, wenn ich ins Zimmer komme. Meine Mutter denkt offenbar, daß der Krieg bald zu Ende sei. Sie hat es zu meinem Vater gesagt. Als ich nachgefragt habe, hieß es, das verstehe ich noch nicht.
    An die Zeit vor dem Krieg kann ich mich nicht erinnern. Ich erinnere mich daran, hier, im Teich von Schloß Ottmanach schwimmen gelernt zu haben. Da war ich vier. Und ich erinnere mich ungefähr an meinen Großvater, der hier bei uns gelebt hat, als die Ostmark noch Österreich hieß, und danach verschwand. »Diese verfluchten Nazis werden noch ganz Deutschland vernichten« habe ich ihn oft schimpfen gehört. Jetzt lebt er in Meran, weil er mit alldem hier nichts zu tun haben will. Und weil er alt ist und herzkrank und das Klima dort ihm guttut.
    Ich erinnere mich an Besuche meiner Onkels bei uns auf dem Schloß, einmal kam Onkel Werner sogar mit dem Flugzeug. Ich habe ihn mit meinem Vater vom Flugplatz abgeholt und zum ersten Mal solch eine Maschine aus der Nähe gesehen. Und ich erinnere mich an eine Motorbootfahrt mit meinem großen Bruder Joe und meinem Großvater auf dem Wörthersee. Das alles war vor dem Krieg, so haben meine Eltern jedenfalls gesagt. Aber ich weiß nicht, was damals anders war als heute und wie es »nachher« werden soll.
    Ich trage das braune Hemd des Jungvolks, das ich vor ein paar Tagen endlich bekommen habe. Zum Schulanfang. Weil ich bald zehn Jahre alt sein werde, und mit zehn wird man aufgenommen. Die »Pimpfenprobe« wurde nur noch ganz schlampig gemacht, und bei den Sportprüfungen wurden alle Augen zugedrückt. Aber das »Horst-Wessel-Lied« und das »Fahnenlied« habe ich fehlerfrei gesungen. Und schließlich brauche man jeden Mann, hieß es.

    »Jungvolkjungen sind hart, schweigsam und treu. Jungvolkjungen sind Kameraden. Der Jungvolkjungen höchstes Gut ist die Ehre«, haben wir schließlich geschworen. Der Eid des Jungvolks.
    Dann wurden wir eingekleidet. Eigentlich hatte ich auf eine ganze Uniform gehofft, doch ganze Uniformen gibt es nicht mehr. Einige aus meiner Altersgruppe haben eine Mütze bekommen, andere eine Hose, einen Gürtel, ein Halstuch oder ein Hemd. Manche auch nur ein Abzeichen. Die ganz glücklichen waren die, die eine Koppel mit dem Dolch bekommen haben, auf dem »Blut und Ehre« steht.
    Eine der kurzen schwarzen Hosen wäre auch nicht schlecht gewesen, aber mit meiner kurzen Lederhose, die ich sommers wie winters trage - im Winter mit verhaßten langen Strümpfen darunter - und dem Hemd sehe ich auch schon fast so aus wie die Hitlerjungen, die man immer in der Kino-Wochenschau sieht.
    Ein Hemd ist eigentlich gut, denke ich. Es ist unübersehbar. Ich gehöre jetzt zum Jungvolk, trage das »Kleid des Führers«, wie sie es nennen. Endlich werde ich ein kleines bißchen respektiert! Aber das wichtigste ist: Unser Lehrer als Zivilist darf mich jetzt nicht mehr schlagen oder sonst irgendwie züchtigen. Das Hemd schützt mich. Es hat Zauberkräfte. Es macht mich ein wenig zu einem Mann, und niemand wird mich mehr schwach und klein nennen. Nicht einmal Joe. Und schon gar nicht unser Lehrer, Herr Sauer. Er ist ein Aushilfslehrer, den man uns

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