Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
Vom Netzwerk:
schickt, weil unser Lehrer sehr viel krank ist. Herr Sauer ist wehruntauglich wegen einer Behinderung.
    Er soll stolze deutsche Jungen aus uns machen, so sagt er immer wieder. Rassenkundeunterricht hat er am allerliebsten.
    »Es genügt nicht, die Juden zu hassen«, fordert er immer wieder von uns, und sein Gesicht scheint dann irgendwie anzuschwellen und wird ganz rot. »Ihr müßt sie fanatisch hassen!« brüllt er. In unserem Rassenkundebuch sind Bilder von ihnen: Verwachsene, böse, häßliche Gestalten mit wulstigen Lippen, krummen Nasen und hinterhältigem Blick. Und dann zeigt er uns begeistert die germanischen Menschen in unserem Rassenkundebuch: Menschen mit ebenmäßigen Zügen, strahlenden Augen, athletischen Körpern. Die deutschen Mädchen in dem Buch sind die schönsten Mädchen der Welt: blond, blauäugig, schlank; ein bißchen wie meine Mutter aussieht.

    Ich habe noch nie in meinem Leben einen Juden gesehen. Bei uns hier gibt es keine. In Klagenfurt soll es ein paar geben, aber wenn ich in Klagenfurt bin, ist ja immer mein Vater oder meine Mutter dabei. Die wüßten bestimmt, was zu tun ist, wenn uns einer begegnet.
    Irgendwann ist mein Vater mit mir spazierengegangen, weil er etwas Wichtiges mit mir besprechen wollte. Und er hat ganz ruhig »Hör zu, Junge« gesagt. Das weiß ich noch ganz genau, weil ich mir plötzlich so erwachsen vorkam und ich das Gefühl hatte, er wolle mir irgendetwas ganz Besonderes anvertrauen. Und ich hab genickt und ganz aufmerksam zugehört.
    »Du mußt jetzt ganz genau aufpassen, was ich dir sage«, hat er gesagt. »Und du mußt mir vertrauen. Über den Krieg und über die Juden und das alles reden wir irgendwann mal. Nicht jetzt. Aber das verspreche ich dir, der Tag wird kommen. Bis es so weit ist, sehen und hören wir nichts, und wir diskutieren nicht über all das. Und vor allem: kein Wort über diese Dinge oder das Gespräch, das wir jetzt führen, in der Schule oder auf dem Spielplatz! Warum das so ist, kann ich dir heute noch nicht sagen. Stell mir deshalb also bitte auch keine Fragen.«
    Ich habe ganz genau gespürt, daß es meinem Vater mit dem, was er gesagt hat, ernst war, und ich hab versprochen, ihm zu vertrauen. Trotzdem ist das alles so verwirrend, und ich würde so viele Dinge so gerne verstehen und so gerne wissen, was für ein großes Geheimnis hinter alldem steckt!
    Mein Vater hat in Opas ehemaligem Arbeitszimmer auch ein sehr schönes Bild hängen, das »Der Jude« heißt. Es zeigt einen alten Mann mit einem langen Bart und einem gütigen Gesicht. Keine Ahnung, warum dieses Bild »Der Jude« heißt und warum es da hängt. Mein Vater liebt das Bild. Einmal sind schon Leute von der Gestapo oder so gekommen, und sie haben wegen dem Bild Ärger gemacht, wollten wissen, ob das ein Familienmitglied sei. Mein Vater hat nein gesagt und unsere Arier-Nachweise gezeigt, dann sind die Leute weggegangen, aber ich hab manchmal Angst, daß sie wiederkommen und irgendetwas unternehmen.
    Eigentlich hab ich das mit den Juden dem Lehrer Sauer früher nicht so ganz geglaubt, aber dann habe ich gesehen, daß es sogar in unserem Rassenkundebuch drinsteht, und da sind auch Bilder dabei.
Und wenn es sogar in einem Buch steht, dann muß es ja wahr sein.
    Und in dem Buch steht auch, daß es irgendwo in Afrika auch noch Neger und andere Menschenrassen gibt. Rassen, die nur durch harte Führung der Germanen im Zaum zu halten sind, steht in dem Buch. Die Neger würden andere Menschen essen und unsere Frauen gefangennehmen und alles verwüsten. Das ist ganz schön unheimlich! Aber Neger gibt es bei uns erst recht nicht. Nicht einmal in Klagenfurt, und ich glaube, nicht einmal in Berlin, unserer schönen Reichshauptstadt. Ich bin noch nie da gewesen, aber es soll die schönste Stadt der Welt sein: groß und mächtig und wichtig und abenteuerlich …
    Vor unserem Aushilfslehrer Sauer haben wir alle Angst. Manchmal reicht schon ein schiefer Blick oder ein Räuspern im falschen Moment, damit er wütend wird. Und dann denkt er sich die fürchterlichsten Strafen für uns aus: Wir müssen auf einem dreieckigen Holzscheit knien, bis wir vor Schmerzen zusammensacken. Oder wir bekommen Schläge mit dem Rohrstock auf die flachen Handflächen, und dann kann ich wieder tagelang nicht Ziehharmonika spielen und habe Schmerzen beim Schreiben meiner Hausaufgaben. Im Winter ist es irgendwie am schlimmsten. Wenn er dann einen von uns bestrafen will, zwingt er ihn, in einem zwanzig Zentimeter schmalen

Weitere Kostenlose Bücher