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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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hat ihn schon für tot gehalten, und nun dieser Brief. Diese merkwürdige Bitte hat ihm die alte Zeit, die für ihn längst hinter dem Schleier der blutrünstigen Geschichte dieser Jahre versunken war, wieder heraufbeschworen.
    Ganz von diesem Gefühl beherrscht, schlendert Wassilij Sergejewitsch Kropotkin die Straßen entlang, über die Moskva-Brücke. Er staunt über die vielen Bettler auf den Straßen, den katastrophalen Zustand vieler Häuser. Auch die Straßenbeleuchtung funktioniert nur da und dort. Es ist eben noch vieles im Umbruch, versucht er, sich zu trösten. Bestimmt wird das Land bald einem wahrhaft goldenen, gerechten und prachtvollen sozialistischen Zeitalter entgegengehen.
    Vor dem Kalantschevskaja-Platz, von dem aus drei Bahnhöfe Züge in drei Himmelsrichtungen führen, herrscht Gedränge. Unzählige Klänge durcheinander. Menschen, die ihre letzten Lumpen verkaufen. Ein Mann hat ein paar Ziegen, eine Kiste voll Hühnern und eine andere mit Hasen mitgebracht und versucht, sie an den Mann zu bringen. Ein anderer führt eine Gans an der Leine und preist sie an. Eine Frau bietet ein paar getragene Damenschuhe an. Sie selbst hat in der Kälte ihre Füße mit Lumpen umwickelt. Kropotkin fühlt sich zunehmend unwohl in seinem neuen, wunderbar weichen, wärmenden Pelzmantel, und er beschließt, daß diese
Menschen, die hier stehen und ihr letztes bißchen Habe verkaufen, sicher die Reichen von einst gewesen waren, und er fühlt sich gleich bedeutend besser. Und da vorne steht ja auch tatsächlich ein Mann in Kleidung, die einmal die bessere Gesellschaft getragen hat. Jetzt ist sie abgenutzt, und er verkauft altes Silber: Tafelservice, Besteck, Samowar. Bestimmt sein ehemaliger Reichtum … Früher hat er sicher feine Tee-Empfänge gegeben und auf die einfachen Arbeiter nur gespuckt. Jetzt lernt er die andere Seite kennen.
    Aber auch viele Verkrüppelte aus dem Krieg betteln, weil sie kein anderes Auskommen finden.
    Gut, daß ich das alles hier mal wieder sehe. Es gibt viel zu tun, denkt Kropotkin.
    Er greift in seine Manteltasche und holt einen silbernen Flachmann heraus, ein Geschenk an sich selbst zum Einstand als Bankdirektor. Der Wodka tut gut und beruhigt.
    Eigentlich muß ich ja verrückt sein, hierherzukommen. Ich weiß doch gar nicht, ob er immer noch hier ist, denkt er. Er hatte sich zwar erkundigt, und ihm war berichtet worden, daß ein Mann, auf den die Beschreibung paßte, in der letzten Zeit am ehemaligen Petersburger Bahnhof, der jetzt Petrograder Bahnhof hieß, gesehen worden sei, aber sicher konnte er sich da natürlich nicht sein. Vielleicht war der Mann, den er suchte, ja längst gestorben. Und überhaupt: Worauf ließ er sich da nur gerade wieder ein? War das, was er auf Bockelmanns Bitte hin vorhatte, nicht eigentlich gefährlich?
    Er nimmt einen neuen Zug von seinem Wodka. Ein zusammengekauertes Bündel Mensch im Rinnstein, eine bettelnde Mutter mit Baby. So hatte er sich die Segnungen des Kommunismus eigentlich nicht vorgestellt. Na ja, es geht eben nicht von heute auf morgen, beruhigt er sich wieder. Große Veränderungen brauchen nun einmal ihre Zeit.
    Musiker an jeder Ecke: mit Fiedeln, Balalaikas, Flöten, einem Akkordeon und allem, was irgendwie Töne von sich gibt. Insgesamt eine Kulisse aus Lärm, Stimmengewirr, dröhnende Menschenmenge.
    Kropotkin weiß nicht, wo er beginnen soll zu suchen. Er sieht sich mal hier um und mal dort, treibt ein wenig ziellos umher. Eine junge Frau mit tiefen Augenringen und hochhackigen Schuhen nennt ihn »Süßer« und fragt, ob sie ihn nicht zu sich nach Hause
begleiten solle. »Vielleicht später«, meint er. Einem Schäferstündchen ist er eigentlich nicht abgeneigt, obwohl Prostitution im neuen sozialistischen Staat natürlich streng verboten ist. Es paßt auch wirklich nicht in das Bild der neuen Frau, des neuen Menschen, der ausbeutungsfreien Gesellschaft. Aber er hat nun einmal keine Frau, ist ein Mann in den besten Jahren, und ein bißchen Spaß wird man ja wohl noch haben dürfen. Vielleicht später. Die Frau folgt ihm in einiger Entfernung, spricht nebenbei auch andere Männer an, wird weggestoßen.
    Plötzlich eine Gruppe von Menschen, die sich um jemanden schart. Kropotkin hört die Töne eines bekannten russischen Volkslieds, aber von welchem Instrument sie kommen, kann er nicht zuordnen. Er kennt sich mit solchen Dingen nun einmal nicht aus. Kultur war schließlich immer den Reichen vorbehalten gewesen. Und eigentlich ist es ja

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