Der Mann mit dem Fagott
eine Spitze, von einem Tuch bedeckt. Ich fühle ein ganz sonderbares Kribbeln in meinem Bauch und weiß, daß ich gefunden habe, was ich suche, noch bevor ich das Tuch abhebe. Die Sonne scheint sanft durch das schmutzige, blinde Fenster und taucht ihn in wunderschönes, geheimnisvolles Licht. So steht er vor mir: rätselhaft angestrahlt, ein geheimnisvolles Lächeln auf seinem Gesicht, ausgeprägte Backenknochen, feingliedrige, seltsam anziehende Züge, einen zerknitterten Zylinder auf dem Kopf, die Haltung leicht nach vorn gebeugt, mit einem Gehrock bekleidet und ein Fagott in der Hand.
Ich halte unwillkürlich den Atem an, möchte am liebsten durch das Haus laufen und »Ich hab ihn gefunden!« rufen, aber gleichzeitig kann ich meinen Blick nicht von ihm abwenden.
Ich weiß nicht, wie lange ich so im Herrenzimmer meines Großvater gestanden und im Geiste nach Rußland gereist bin, in den kleinen Antiquitätenladen und in das Haus meines Großvaters und zum Petersburger Bahnhof, als ich plötzlich die Stimme meines Vaters hinter mir höre: »Ist er nicht wunderschön?«
Und Joe sagt: »Ja, schön ist er schon, aber ist es nicht ziemlich unpraktisch, ihn mitzunehmen?«
Mein Vater nickt, aber er sagt, daß wir das trotzdem irgendwie
organisieren müssen. Er wolle sich jetzt nicht mehr von ihm trennen.
»Wie ist das mit dem ›Mann mit dem Fagott‹ eigentlich weitergegangen, nachdem Opa aus Moskau geflüchtet ist?« will Joe wissen. »Hat Großvater noch mal was von ihm gehört?
Mein Vater lächelt.
Und mitten in Berlin, das in Trümmern liegt, in einer Zeit, die unbegreiflich ist und grausam und verwirrend und die uns zu Flüchtlingen gemacht hat, in einem verlassenen, gespenstischen Haus, in dem der Geist meines Großvaters trotz allem noch irgendwie zu spüren ist, vergesse ich alles um mich herum und folge meinem Vater in eine völlig andere Welt.
7. KAPITEL
Moskau, November 1920
Kropotkins Auftrag
Ein kalter Spätherbsttag, der mit seiner Dunkelheit, seinen Temperaturen, seinem Nebel den langen russischen Winter bereits erahnen läßt. Wassilij Sergejewitsch Kropotkin hat seinen neuen Pelzmantel angezogen und sich abends, nach Bankschluß auf den Weg zum Petersburger Bahnhof gemacht, um einer etwas verrückten Bitte dieses seltsamen ehemaligen Direktors Bockelmann nachzugehen.
Er hätte natürlich auch einen Bediensteten, den neuen Heizer der Bank oder seinen Sekretär bitten können, diese Aufgabe zu erledigen, aber aus irgendeinem Gefühl heraus möchte er es gern selbst tun. So schlendert er in seinem neuen Pelzmantel durch die Stadt, zu Fuß, denn einen Fahrer zu beauftragen, hätte vielleicht zuviel Aufsehen erregt. Und er hat sich an seinen neuen Wohlstand auch noch nicht wirklich gewöhnt. Er muß sich manchmal selbst daran erinnern, daß er nun Bankdirektor ist und sich einiges leisten kann. Als die Bolschewiki alle Betriebe verstaatlicht haben, hat man ihm, Wassilij Sergejewitsch Kropotkin, die Leitung des Instituts angetragen, da er seit Jahrzehnten in diesem Hause arbeite und daher so etwas wie ein Fachmann sei, und zwar einer der »ihren«, ein Mann der ersten Stunde. Und es erscheint ihm immer noch wie ein seltsamer Traum, wenn er sich plötzlich selbst in diesem Büro sitzen sieht, in dem er früher für Direktor Bockelmann geheizt hat - und ein paar Jahre lang auch für den Bankier Mitka Rubinstejn, der die Bank von Heinrich übernommen hatte. Nun macht
ein anderer die »niedrigen« Dienste, und er, Wassilij Sergejewitsch Kropotkin, ist der Chef. Die Bolschewiki haben ihm eine schöne neue Wohnung ganz in der Nähe zur Verfügung gestellt. Er hat einen Dienstwagen, einen Sekretär und einflußreiche Freunde. Von all dem hätte er früher nicht einmal zu träumen gewagt. Ja, so ändern sich eben manchmal die Zeiten. Obwohl er sich selbst eingestehen muß, daß er eigentlich kaum etwas von Geldgeschäften versteht, um diese Funktion erfüllen zu können. Manchmal wundert er sich, daß trotzdem alles irgendwie seinen Gang geht. Die Leute, die die nötige Ausbildung gehabt hätten, schienen der Partei nicht vertrauenswürdig genug. Wer sich schon vor dem Bolschewismus mit einer Geldkarriere beschäftigt hatte, war verdächtig. Also war die Wahl auf ihn, Wassilij Sergejewitsch Kropotkin, gefallen. Andere Zeiten schaffen eben andere Karrieren.
Daß Bankier Bockelmann es damals tatsächlich geschafft hat, aus dem Land zu kommen, freut ihn. Er hat seit sechs Jahren nichts mehr von ihm gehört,
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