Der Mann mit dem Fagott
auch etwas ganz und gar Unnötiges, eine bloße Zerstreuung, die nichts zur Besserung der Gesellschaft beiträgt. Er drängt sich ein bißchen vor, die Menschen weichen vor ihm zurück. Früher sind sie immer wegen seines großen dunklen Mals auf der linken Wange zurückgewichen, im Aberglauben, jemand, der solch ein Mal trägt, bringe Unglück. Jetzt weichen sie eher vor seiner Macht zurück, vor dem Sowjetstern auf dem Revers des teuren Pelzmantels, der eine deutliche Sprache spricht, das fühlt er, und er genießt es.
Die Menschen geben den Blick auf den Mann frei, dem sie gelauscht hatten: ein Mann in den besten Jahren, etwas ausgezehrter Körper, ein seltsames, buntes, abgewetztes Kostüm. Er trägt einen dunkelblauen Gehrock mit rot umfaßten goldenen Knöpfen, eine dunkle Hose und auf dem Kopf einen schwarzen, zerknitterten Zylinder. Seine Augen hat er geschlossen. Seine Hände stecken in alten, vorne abgeschnittenen Wollhandschuhen, aus denen die Finger herausragen. Seine Haltung leicht nach vorn gebeugt, und er spielt auf einem langen Instrument aus Holz, von dem ein kleines Metallrohr abzweigt, in das er bläst. Bestimmt ist das ein Fagott, wie Bockelmann schrieb, denkt Kropotkin, ich hab ihn gefunden.
Nur weiß er nicht genau, was er jetzt tun soll. Er hat sich seine Vorgehensweise nur bis hierher überlegt und nicht weitergedacht.
Ich kann immer noch zurück, überlegt er, ich kann mich einfach
umdrehen und weggehen, und keiner wird je wissen, daß ich da gewesen bin, aber irgendwie reizt ihn sein Auftrag. Eine alte Abenteuerlust, die Bockelmann in ihm geweckt hat. Und es ist ja auch ein Auftrag, der einen armen Menschen glücklich machen wird, also nimmt er einen Zettel aus seiner Tasche, einen Bleistift und schreibt: »Ich habe eine wichtige Nachricht für Sie. Kommen Sie morgen um 7 Uhr abends zur Junker-Bank am Kusnezkij Most. Fragen Sie nach dem Direktor, und nennen Sie als Stichwort ›Der Mann mit dem Fagott‹. Es wird sich für Sie lohnen.«
Er wirft den Zettel und ein paar Kopeken in den merkwürdigen braunen, abgenutzten Koffer mit den Messingbeschlägen und verschwindet in der Menge.
Heinrichs Brief
Zwanzig vor sieben. Seit Stunden ist es dunkel. Der beginnende Winter. Nur die Bank ist noch hell erleuchtet. Wassilij Sergejewitsch Kropotkin mag dieses helle elektrische Licht, das ihm das Gefühl gibt, daß alles um ihn herum funktioniert und die Welt sich zum Guten wandelt. Und er liebt die beiden großen Fenster seines Büros: das eine, das zur Straße führt, die wie meistens nur spärlich beleuchtet ist - und fast noch mehr das andere, das ihn von seinem Büro aus die Schalterhalle überblicken läßt. Ein, obwohl er ihn schon so viele Jahre lang kennt, immer noch überraschend schöner Jugendstilraum mit mintgrün-weißen Wänden, Säulen, Glasdecken, die auf geheimnisvolle Weise Tageslicht in den Raum scheinen lassen. Kropotkin kann sich an der Schönheit der Räume manchmal gar nicht satt sehen. Heute baut man natürlich anders, zweckmäßiger, preiswerter, aber eine Bank wie diese hier - das ist schon etwas ganz Besonderes. Früher hatte Bockelmann von hier aus den Überblick, und nun steht Kropotkin oft an diesem goldgerahmten Fenster und genießt es einfach nur, den Leuten zuzusehen, die unter seiner Leitung arbeiten.
Heute abend sind die Mitarbeiter längst nach Hause gegangen,
und den Wachdienst am Eingang hat die Abendschicht übernommen. Er hat die Leute informiert. Sie haben ihn nicht einmal verständnislos angesehen. Zumindest damit hatte er eigentlich gerechnet, einem leisen Zucken einer Augenbraue, einem mühsam verborgenen Schmunzeln, vielleicht sogar einer direkten Frage. Aber nichts dergleichen. Die Leute haben auf den Auftrag, einen Mann, der heute abend kommen und als Stichwort »Der Mann mit dem Fagott« nennen würde, zu Kropotkin zu bringen, genauso reagiert wie auf alles andere, was er in seiner Zeit als Bankdirektor angeordnet hat. Die Zeiten schienen für die meisten Menschen so verwirrend zu sein, daß sie nichts mehr wirklich überraschte, und das ist Wassilij Sergejewitsch Kropotkin sehr recht.
Irgendwie fühlt Kropotkin, daß er Teil einer ganz besonderen Geschichte wird. Er genießt die schöne Macht, die er in Händen hält, diesen seltsamen »Mann mit dem Fagott«, an dem Bockelmann irgendeinen merkwürdigen Narren gefressen zu haben scheint, glücklich machen zu können. Es reizt ihn, den Glücksboten in dieser fast märchenhaften Angelegenheit zu
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