Der Mann mit dem Fagott
haben auch nicht mehr sehr viel Brot und Wasser und selbstgemachte Salami dabei. Mein Ohr tut auch weh, aber meine Mutter sagt, es könne jetzt nicht mehr lange dauern, bis wir in Berlin sind.
Rattern, schaukeln. Dann wieder ein Halt, langsame Anfahrt. Draußen ist es dunkel, doch irgendein seltsam flackerndes Licht begleitet uns. Ich weiß nicht, ob ich wach bin oder träume. Um uns herum scheint es zu brennen. Bizarrer Lichterschein. Häuserfassaden, hinter denen keine Häuser mehr stehen. Sirenenlärm, ganz aus weiter Ferne. Der Klang eines Fagotts, aber bestimmt träume ich das nur. Und wieder dieser Lärm, der sich mir wie eine Walze nähert, meine Stimme, die nicht dagegen ankommt. Irgendwo, ganz weit weg, höre ich mich schreien. Ein Mann in HJ-Uniform schlägt nach mir. Langsam wie in Zeitlupe nähert sich seine Hand meinem Kopf. Der Schlag explodiert wie eine Bombe. Irgendwo in der Explosion höre ich die Stimme meiner Mutter, die ich nicht verstehen kann. Jemand berührt mich. Ich trete um mich. »Aufwachen! Jürgen! Aufwachen! Wir sind da!« Benommen vom Schrecken des immer wiederkehrenden Alptraums wache ich auf. Mein Ohr schmerzt höllisch.
»Du brauchst keine Angst zu haben, wir sind alle bei dir«, sagt meine Mutter, während irgendwo wirklich eine Sirene erklingt.
»Wir sind in Berlin«, fügt mein Vater hinzu, und ich bin sofort hellwach.
Als wir aus dem Anhalter-Bahnhof treten, ist es dunkel. Nicht einmal eine Straßenlaterne brennt. Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, daß in Berlin alle Häuser hell erleuchtet sind, so, wie mein Vater mir das vom Bolschoj-Theater in Moskau erzählt hat, aber natürlich geht das nicht, weil man dann die Häuser viel besser treffen könnte. Dann war das magische Flackern, das ich vom Zug aus im Halbschlaf gesehen habe, wohl auch nicht die märchenhafte Stadtbeleuchtung, sondern das Züngeln der Flammen aus brennenden Häusern, das ich auch jetzt da und dort sehe. Es läßt die Konturen der Ruinen sehr gespenstisch aussehen. Es liegt ganz viel Rauch über der Stadt, und die Straße vor dem Bahnhof ist voll von Schutt. Man muß manchmal über Trümmer steigen. Und es ist bitterkalt. Irgendwie hatte ich mir Berlin ganz anders vorgestellt.
Eine Weile stehen wir ratlos herum. Eine alte Frau, die alles, was sie besitzt, am Körper zu tragen scheint, viele Schichten übereinander, fragt uns, ob wir eine Scheibe Brot für sie hätten. Meine Mutter gibt es ihr und den letzten Rest unserer Wurst aus Ottmanach, und die alte Frau beginnt zu weinen und beschreibt uns den Weg. Es ist offenbar viel zu weit, um zu Fuß zu gehen, und Straßenbahnen oder so fahren natürlich nicht. Taxis soll es noch ein paar geben, aber wir sehen keins. Schließlich spricht uns ein junger, einbeiniger Mann in einer verschlissenen Uniform an:
»Na, och keen Dach überm Kopp, wa?«
Wir erklären, daß wir zum Grunewald müssen und nicht wissen, wie wir da hinkommen können.
»Wenn a’n paar Jroschen oder’n paar Lebensmittelmarken habt - da steht meine ›Luxus-Droschke‹. Na ja, een Rolls Royce is es nich jerade …« Er lacht und weist mit seiner Hand auf eine Art Leiterwagen ein paar Meter weiter, vor den ein Pony gespannt ist.
Mein Vater berät sich kurz mit ihm, reicht ihm ein paar Marken und etwas Geld, dann gibt er uns ein Zeichen zu kommen. Wir klettern alle auf den merkwürdigen Wagen.
»Könn’ Se ma helfen?«
Mein Vater hilft dem Einbeinigen auf den Wagen, und der treibt sein altes, müdes Pony an, das uns durch die ganze Stadt bringen soll.
Meine Mutter wickelt Joe, Manfred und mich in Decken. Hilde hält Manfred fest. Entsetzt sehen wir uns um. Die Stadt scheint nur
noch aus Trümmern und Ruinen zu bestehen. Überall raucht es, manche Häuser brennen. Überall auf den Straßen scheinen Menschen unterwegs zu sein. Einmal heulen die Sirenen, aber unser »Kutscher« ist davon nicht beeindruckt und fährt einfach weiter. Und bald gibt es auch Entwarnung, und aus den Kellern kommen überall Menschen.
Ich frage mich, wann wir endlich am schönen Reichstag und am Brandenburger Tor und so vorbeikommen, aber das muß irgendwo ganz anders sein. Ob das wohl auch alles zerstört ist? Aber bestimmt werden diese Gebäude ganz besonders gut bewacht.
Ich frage lieber nicht.
»Ja, ja, ihr kiekt schon richtig, det is der Ku’damm«, erklärt unser ›Fahrer‹, und mein Vater flüstert Joe die Übersetzung, »Kurfürstendamm«, zu. Das kann ich kaum glauben, denn der Kurfürstendamm
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