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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Junge abgehauen, erzählt er mit Angst im Blick. Er siezt seine Zellengenossen voller Respekt.
    Der Junge zuckt bei jeder Bewegung in der Zelle und vor allem bei jedem Alarm, jedem Schuß, jeder Detonation zusammen, schreckt nachts oft hoch, »Nein, nein!« wimmernd. Einmal hatte sich Rudi, dessen Pritsche an die des Jungen grenzte, aufgesetzt und hatte dem jungen Deserteur den Kopf gestreichelt, beruhigend auf ihn eingesprochen, und irgendwann hatte der Junge nur noch still geweint. Rudis eigene Tränen hat niemand gesehen.
    Manchmal schaut Rudi den Jungen lange an und fragt sich, was aus diesem jungen Menschen eines Tages werden soll. Welche Werte hat man ihm vermittelt? Wer soll ihm in der Zukunft Werte vermitteln? Wem wird er noch glauben?
    Plötzlich öffnet sich sie Zellentür. Der Wärter ruft: »Bockelmann!« Rudi erhebt sich mühsam von seiner Pritsche.
    Es geht offenbar nicht in die Besucherzelle. Der Weg führt weiter. Rudi muß immer wieder innehalten, weil ihm von der ungewohnten Anstrengung schwarz vor Augen wird, er sich an die Wand lehnen muß, um neue Kraft zu sammeln.
    Draußen ist es in diesen letzten Tagen Frühling geworden. Die
Sonne scheint, die ersten Bäume blühen. Es paßt überhaupt nicht zu den Trümmern, in denen die Stadt liegt und zu dem, was die Welt durchmacht.
    Tatsächlich, es geht wieder zum Gestapo-Hauptquartier.
    Man bringt ihn in das ihm schon bekannte Zimmer Nr. 28, doch alles hier scheint in Auflösung begriffen: Es stehen zwei Kisten neben dem leergeräumten Schreibtisch, auf dem nur noch eine einzige Akte liegt. Das Hitlerbild ist abgenommen und lehnt an der Wand.
    »Guten Tag, Herr Bürgermeister«, begrüßt ihn Brettschneider, und der Zynismus in seiner Stimme ist gegenüber den beiden letzten Verhören zurückgenommen, aber immer noch spürbar.
    »Sie haben uns ja große Sorgen gemacht. Sie waren im Krankenhaus?«
    Rudi kann die plötzliche Besorgnis des Kommissars nicht einordnen und antwortet nur knapp: »Jawohl.«
    »Bitte, setzen Sie sich«, der Kommissar weist mit einer beinahe einladenden Geste auf den bekannten Stuhl. Die Lampe ist schon verpackt.
    Brettschneider umfaßt mit einer Armbewegung den Raum. »Entschuldigen Sie das Chaos hier, aber ich bin versetzt worden.« Er macht eine Pause. »Ihren Fall wollte ich aber noch persönlich zum Abschluß bringen.«
    Rudi fühlt seinen Herzschlag pochend bis zum Hals. Was sollte das heißen: seinen Fall »zum Abschluß bringen«? Gleich erschießen? Minenräumdienst?
    »Nun …« Der Kommissar blättert in der Akte auf seinem Schreibtisch. »Wir haben Ihren Fall genauestens untersucht, und Sie haben sich während Ihrer Haft kooperativ gezeigt.« Er räuspert sich.
    »Und angesichts der aktuellen Lage …« Brettschneider macht eine bedeutsame Pause und sieht Rudi direkt an. »… und Ihrer Kooperation sind wir zu dem Schluß gekommen, daß wir nicht als Unmenschen dastehen wollen. Wir werden Sie in den nächsten Tagen entlassen, obwohl Sie natürlich schwere Schuld auf sich geladen haben.«
    Rudi wäre trotz seines geschwächten Zustands vor Freude am liebsten aufgesprungen. Er greift sich fassungslos mit der Hand an
seinen Mund, weiß nicht, wohin mit seiner unbändigen Freude und Erleichterung, aber der Kommissar ist offenbar noch nicht fertig. »Wir werden Sie entlassen, aber selbstverständlich werden Sie nach ein paar Tagen einen Einberufungsbescheid an die Front erhalten.« Er mustert Rudis ausgemergelten Körper mit einem kurzen Blick. »Aber vorerst werden Sie sicher nicht wehrtauglich sein. Und wie gesagt: Wir sind ja keine Unmenschen. Bitte, vergessen Sie das nicht, und erinnern Sie sich daran, wenn Sie eines Tages gefragt werden!«
    Wieder dieser Blick, der sich des Einverständnisses versichert.
    Rudi nickt.
    »Selbstverständlich«, ist das einzige Wort, das er in seinem inneren Aufruhr herausbringt.
    Der Kommissar blättert in der Akte, übergibt ihm ein Bündel mit Briefen, die Käthes Handschrift tragen. Rudi erkennt das Bündel sofort: Es sind die Briefe, die Käthe und er während der Verlobungszeit getauscht hatten.
    Brettschneider lächelt und fühlt sich offensichtlich zu einer Erklärung verpflichtet. »Sie werden verstehen, daß wir Ihre Gesinnung überprüfen mußten. Wir haben uns das nicht leichtgemacht, und dazu gehört natürlich auch Einblick in Ihre private Korrespondenz. Übrigens eine beneidenswerte Ehe, die Sie da zu führen scheinen …«
    Rudi überhört den letzten Satz. Was ist das

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