Der Mann mit dem Fagott
britischen Besatzungsmacht vor kurzem sein Amt als Oberstadtdirektor von Lüneburg angetreten und damit als einer der ersten Deutschen politische Verantwortung in einer neu entstehenden Demokratie übernommen hat: Deutschland liegt in Trümmern. Die Menschen haben einen der härtesten Winter seit Jahren hinter sich. Es gab an nichts genug: zu wenige Wohnungen, zu wenig Nahrung, zu wenig Kleidung, zu wenig Heizmaterial, so gut wie keine Sicherheit. Die Leute haben gehungert, gefroren, viele irren herum und suchen ihre Angehörigen, die in den Wirren des Krieges verlorengingen. Reisen innerhalb der einzelnen Zonen sind möglich, aber mühsam, Reisen über Zonengrenzen hinweg sind fast nicht zu organisieren und vor allem nicht zu bewältigen. Auch sein Bruder Rudi ist bisher nicht aus Ottmanach weggekommen, um seine Familie nach Hause zu holen.
Es ist einer der ersten sonnigen Tage in diesem Jahr. Das Fenster seines Amtszimmers steht offen. Die Bäume blühen, die Vögel zwitschern. Es duftet nach Frühling und Neubeginn, und er hat ein
Amt inne, in dem er etwas bewegen kann. Besser hätte er es nicht treffen können.
Seit kurzem wohnt er mit seiner Frau Rita und seinen beiden Söhnen Mischa und Andrej auch endlich wieder in eigenen vier Wänden. Die Dienstvilla liegt nur etwa 300 Meter Luftlinie vom Rathaus entfernt, und Werner freut sich auch darauf, an den Wochenenden wieder in Ruhe Vater zu sein, sich um die Jungs zu kümmern, mit Rita die lange Zeit der Trennung während des Krieges endlich hinter sich zu lassen. Es ist Freitag nachmittag. Er wird heute versuchen, früh zu Hause zu sein und noch ein bißchen mit den Kindern zu spielen.
Er fühlt, daß es ab jetzt aufwärts gehen wird. Der Krieg wird bald nur noch eine schlimme Erinnerung sein. Er hat in der Familie kein Opfer gefordert. Nur um ihren jüngsten Bruder Johnny müssen sie sich noch Sorgen machen. Inzwischen haben sie die Nachricht bekommen, daß er in russischer Kriegsgefangenschaft ist. Irgendwo im Ural. Wenigstens lebt er!
Er nimmt seine Briefmappe, unterschreibt, was seine Sekretärin darin vorbereitet hat, und ist überrascht, daß die Verbindung schon nach einer Stunde steht. Die Technik scheint Fortschritte zu machen.
»Werner? Wie schön, daß du anrufst!« Rudis Stimme im Telefon klingt immer noch vertraut, obwohl die Brüder sich seit Jahren nicht mehr gesehen haben. »Wie geht es dir?«
Man tauscht die Neuigkeiten aus. Auch in Ottmanach keine neuen Nachrichten von Johnny. In Kärnten herrscht offenbar immer noch großes Chaos, wie überall im ehemaligen Kriegsgebiet. Rudi kann das Land erst verlassen, wenn er erfolgreich »entnazifiziert« und zum österreichischen Staatsbürger erklärt wurde.
»Und wie geht es deinen Buben? Die sind doch jetzt auch schon ganz schön groß, oder?«
»Ja, Mischa ist gerade sieben geworden. Er entwickelt sich prächtig, kann schon ein bißchen schreiben. Und Andrej wird im April fünf. Ein quirliger kleiner Kerl, der uns viel Freude macht!«
»Und hast du meine Jungs mal gesehen?« Rudis Stimme zittert ein wenig. Immerhin hat er seine Familie seit mehr als einem Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen. Werner spürt, daß Rudi das
nicht mehr lange aushält. Rudi war schon immer der empfindsamste von ihnen gewesen.
»Deinen dreien geht es gut, glaub mir! Die beiden Großen haben Privatunterricht; die Schulen sind ja immer noch geschlossen, und ich glaube, sie machen Fortschritte. Dein Ältester treibt wie immer viel Sport und macht schon einen sehr vernünftigen Eindruck. Er ist fast schon ein junger Mann geworden. Jürgen ist wie immer ein bißchen zurückgezogen, ein kleiner Träumer halt. Du weißt ja, daß ich ihn sehr gern hab. Und ich hab gehört, daß er in jeder freien Minute am Klavier sitzt - aber nur, wenn er glaubt, daß ihn niemand hören kann. Der kleine Manfred plappert viel und ist das freundlichste Kleinkind, das ich je erlebt habe. Käthe ist immer zuversichtlich und voll Energie wie eh und je. Und sie streitet mit ihrer kommunistischen Mutter, die gerade in Barendorf zu Besuch war, wie wir das von den beiden ja bestens kennen.«
Rudi lacht. Die Unbelehrbarkeit und Radikalität seiner Schwiegermutter Lilly Arp und die Kämpfe zwischen ihr und Käthe hat er noch lebhaft in Erinnerung.
Mitten in dieses Lachen ertönt irgendwo in der Stadt ein lauter Knall, den sogar Rudi durch das Telefon in Ottmanach hören kann. »Was war denn das?«
»Ach, bestimmt wieder so eine verdammte alte
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