Der Mann mit dem Fagott
sprechen: Nur so konnte er am Ende des Krieges als deutscher Soldat aus dem Danziger Kessel entkommen. Er hatte den russischen Soldaten einfach auf russisch etwas zugerufen, als wäre er einer von ihnen, und sich dann davongemacht. Daß er keine Uniform getragen hatte, war in den Kriegswirren niemandem aufgefallen.
Werners Gedanken schweifen immer wieder ab. Vor vierundvierzig Jahren ist er als Siebenjähriger zu Fuß in einer lächerlichen Verkleidung mit seiner Familie zum Petersburger Bahnhof gelaufen, Vertriebene der Zeit. Er hatte alles, was ihm vertraut und lieb gewesen war, hinter sich lassen und mit ansehen müssen, wie man seinen Vater vom Bahnsteig weg verhaftet hatte. Heute kehrt er als renommierter deutscher Politiker und Gast des Landes zurück, wird in einem großen »Sim«, dem russischen Staatswagen, zu seinem Hotel gebracht. Erste Erinnerungen, als die Fahrt am Hotel Metropol vorbeiführt, in dessen Restaurant Werners Vater Heinrich so gern nach dem Theater gegessen hat. Ganz in der Nähe lag das Bankhaus. Zum ersten Mal ein Gefühl von freudiger Anspannung. Sobald der Terminplan eine Lücke vorsieht, wird er hingehen. Und ins Haus seiner Kindheit und zur Zarenglocke am Kreml und an all die Orte, an die die Erinnerung ihn treibt.
Nach der ersten nervösen Nacht und den ersten offiziellen Terminen
ein freier Nachmittag. Der Dolmetscher, der im Hotel auf ihn gewartet hatte, drängt sich auf, ihn zu fahren, wohin auch immer er möchte, und Werner kann ihn nur mit Vehemenz und einem Zehndollarschein abschütteln. Er genießt seine Freiheit.
Schlangen vor den Geschäften, die seltsamerweise keine Namen tragen wie früher, sondern nur die Bezeichnung dessen, was es hier zu kaufen gibt, wenn es überhaupt etwas gibt: Nicht mehr das vertraute schöne Schild: »Schuhhaus Weiss«, an das er sich aus seiner Kindheit erinnert, sondern nur noch »Obuff« für »Schuhe« oder ein paar Häuser weiter »Mjasso« für »Fleischwaren« oder »Bulotschnaja« für »Bäckerei«. Alle Schilder in einer nüchternen Einheitsschrift. Passanten fragen die Leute, die in der Schlange stehen, was genau hier heute angeboten wird. »Stiefel?« oder »Schreibpapier?«, »Brot?«, »Eier?« oder »Seife?«, erhalten eine Antwort und entscheiden sich, sich einzureihen oder weiterzugehen und eine andere Schlange zu suchen, die für etwas ansteht, was sie noch dringender brauchen. Peinlich berührt denkt Werner an die Köstlichkeiten, die ihm gestern beim Abendessen angeboten worden waren: von Kaviar bis hin zu frischen Früchten, alles, was das Herz begehrt und was diese Menschen hier seit Jahren nicht einmal zu Gesicht bekommen haben.
Menschenmassen auch vor dem Lenin-Stalin-Mausoleum am Kreml, dem Roten Platz und bei der Zarenglocke. Kindheitserinnerungen. Es war der Lieblingsplatz von ihm und seinen Brüdern gewesen, ein verzauberter, romantischer Ort.
Dafür eine Galerie, die ihn seltsam anzieht: »Tretjakoffsche Galerie« steht am Eingang. Er läßt das Taxi kurz anhalten. Fasziniert schlendert er durch die Räume, getragen vom seltsamen Gefühl einer fremden Vertrautheit, als er durch die Säle mit den Bildern der russischen Romantiker streift. Große, monumentale Gemälde mit Themen aus der russischen Geschichte und Mythologie: Zarewitsch mit dem grauen Wolf, Iwan der Schreckliche, der seinen von ihm selbst tödlich getroffenen Sohn in den Armen hält, Bilder aus den napoleonischen Kriegen. Wo hat er das alles schon gesehen? War er mit seinem Vater schon einmal hier gewesen?
Der Saal mit der zeitgenössischen Kunst und den sterilen Bildern, die nur der Stalin- und Soldatenverherrlichung dienen, wirkt
gegen die großartigen Gemälde aus der alten Zeit wie ein billiger Abklatsch auf »echte« Malerei, und Werner wird deutlicher denn je bewußt, wie untrennbar Kunst und Freiheit miteinander verbunden sind. Schnell tritt er wieder auf die Straße.
Der Taxifahrer ist nicht besonders begeistert, als Werner ihm die Adresse seines nächsten Ziels nennt. Dorthin könne man unmöglich fahren. Warum, das erklärt er nicht, nur, daß es »nicht gut« sei, zu dieser Adresse zu fahren. Werner wundert sich über dieses seltsame Verhalten, die Andeutungen, aus denen er einfach nicht schlau wird, aber er ist nicht bereit, sein Ziel aufzugeben, und schließlich einigt man sich darauf, daß das Taxi eine Straße weiter halten und er das letzte Stück zu Fuß gehen wird.
Die Häuser der Kasakowa erzählen von einer anderen Zeit: Villen
Weitere Kostenlose Bücher