Der Mann mit dem Fagott
irgendwohin bringen?
Erleichtert steht Werner auf. »Es wäre wirklich schön, wenn ich jetzt in mein Hotel könnte.«
»Selbstverständlich, Gospodin«, es wird Sie jemand hinfahren.« Nun bezeichnete man ihn sogar als »Herr«. Werner unterdrückt ein Lächeln.
»Danke, aber viel wichtiger ist mir zu wissen, daß die Genossin Nastasja keinerlei weiteren Probleme haben wird?«
»Natürlich nicht. Wir haben sie für heute nach Hause geschickt.«
»Habe ich Ihr Wort, daß ihr nichts geschehen wird?«
»Ja, selbstverständlich.«
Höflich wird er, ohne einen der Beamten von vorhin und auch ohne Nastasja noch einmal zu sehen, mit einem beinahe unterwürfigen »Mojo potschtenje, Gospodin« hinausgeleitet und in sein Hotel gebracht.
Der deutsche Botschafter und die anderen Offiziellen bemühen sich später redlich, den peinlichen Eindruck, den dieser Vorfall machen könnte, wegzuwischen. Man scheint nach Tisch in einer etwas aufgelockerten Runde aufrichtig interessiert an seinen Eindrücken zu sein, seine Kritik an der Unterdrückung der Menschen, an der Staatskunst, die in Unfreiheit entsteht, ernst zu nehmen. Gespräche in einer erstaunlichen Offenheit. Er wird mit dem Gefühl der Hoffnung nach Hause fahren, daß dies ein Land ist, in dem man langsam zu hören und sich zu öffnen beginnt.
Liebe und Schuld
»Und nun sitzen wir hier, und in Berlin wird eine Mauer gebaut, und die Gräben zwischen Ost und West scheinen tiefer und unüberwindbarer denn je.« Onkel Werner schüttelt ratlos und nachdenklich den Kopf.
Wir sitzen inzwischen beim Abendessen im Restaurant des Frankfurter Hofs. Mein Flug nach Berlin, wo ich mit Werner Müller Radioaufnahmen für den RIAS machen soll, wurde angesichts der aktuellen Ereignisse gestrichen, und ich muß in Frankfurt übernachten, was Onkel Werner und mir Gelegenheit gibt, den Abend gemeinsam zu verbringen.
Onkel Werner erzählt mir von seinen Kindheitserinnerungen an Rußland, von meinem Großvater, vom »Mann mit dem Fagott«, von Erinnerungen an meinen Vater als Kind, aber auch von seinen Gefühlen, als er seinen ältesten Sohn Mischa durch die Bombe im eigenen Garten verlor, von seinen widersprüchlichen Emotionen bei der Erziehung seines überlebenden Sohnes Andrej und der beiden Söhne, die nach Mischas Tod geboren wurden. Er erzählt mir von seiner Jugend als Kommunist und vom Entsetzen der bürgerlichen Familie, als sie von der Parteimitgliedschaft erfuhr.
Er erzählt mir davon, wie er schon 1940 durch seine kommunistischen Freunde Dokumente in die Hände bekam, die die Pläne der Nazis zur Judenvernichtung bewiesen. Als Oberstabsintendent der Marine hat er diese Papiere nach Dänemark geschmuggelt und dort Politiker ins Vertrauen gezogen, in der Hoffnung, daß diese Pläne veröffentlicht würden und das Schlimmste so zu verhindern sei. Er erzählt mir davon, wie ratlos und ungläubig man damals in Dänemark auf diese Unterlagen reagierte und ihn unverrichteter Dinge nach Hause fahren ließ. Wenig später hat er nachts irgendwo auf einem Güterbahnhof einen Zug stehen sehen, der aus Güterwaggons zusammengesetzt war. SS-Leute standen darum herum. Aus dem Inneren drangen seltsame schabende und kratzende Geräusche. Er dachte zu diesem Zeitpunkt noch, es sei ein Tiertransport. Und er erzählt mir von dem Moment, in dem er das Unfaßbare erkannte: menschliche Stimmen, ein vielstimmiges
Stöhnen, wie es nicht von Tieren stammen konnte, sogar einzelne Wörter. Er erzählt mir von seinem Schock, davon, wie ein SS-Mann ihn weggescheucht habe und von der Hilflosigkeit, die er mit seinem Wissen empfand, das im Ausland auf taube Ohren stieß.
Aber wir sprechen auch über meine bisherige Karriere, über meine Ziele und über die Liebe, die Schwierigkeiten, die sie einem in den Weg stellt. Und plötzlich wird Werner ganz ernst, und er sagt: »Weißt du, auch meine erste große Liebe war im Grunde für mich eine Erfahrung des Versagens.«
Er beginnt, mir von seiner Liebe zu Ruth zu erzählen, einer jungen Jüdin, der ersten großen Liebe und der ersten großen Schuld seines Lebens. Damals, in den dreißiger Jahren …
»Natürlich waren unsere Familien dagegen, aber das hat uns nichts ausgemacht. Wir dachten, wir hätten die Liebe neu erfunden. Aber der Nazi-Ungeist begann, sein Unwesen zu treiben, und bald hat uns die Wirklichkeit mit aller Härte schneller eingeholt, als wir uns das hätten vorstellen können.« Werner greift nach meiner Zigarettenschachtel, nimmt sich
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