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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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wütend den Kopf. »Man provoziert uns bis zum Äußersten, aber wir können im Augenblick nichts unternehmen. Es wird in der internationalen Politik gerade darüber diskutiert, ob man Atomwaffen in Deutschland stationieren soll, aber stell dir nur mal die Konsequenzen vor. Würdest du wollen, daß man mit Atomwaffen auf Ostdeutschland zielt? Oder auch auf Moskau? Würdest du mit den Konsequenzen für unser Land, aber auch für die Menschheit insgesamt leben wollen?«
    Ich schüttle den Kopf. »Es muß doch auch noch andere Möglichkeiten geben.
    Onkel Werner nickt. »Das hoffen wir alle, aber bisher haben wir solche Möglichkeiten noch nicht gefunden.«
    »Aber was wird jetzt geschehen? Du mußt doch mehr wissen als wir alle …«
    »Das weiß keiner. Mein Parteigenosse und Amtskollege in Berlin, Willy Brandt, bereitet einen Brief an Kennedy vor, in dem er die Lage schildert und um volle Unterstützung unserer Schutzmächte und Einhaltung aller Sicherheitsgarantien, die die West-Alliierten seinerzeit für Berlin gegeben haben, bitten wird. Vielleicht wird der amerikanische Präsident oder zumindest der Vizepräsident Lyndon B. Johnson nach Deutschland kommen, um diese Unterstützung zu demonstrieren. Es wird ein Waffenrasseln auf allen Ebenen geben.« Er hält inne. Werner spricht so besonnen wie es seine Art ist, doch an seiner Mimik und Gestik kann ich deutlich seine innere Aufgewühltheit und Besorgnis ablesen, die er mit dieser Krise verbindet. »Eines macht mir große Sorgen, Junge: Adenauer hat vor, auf gar keinen Fall die Beziehungen zu Moskau irgendwie
zu gefährden. Ich persönlich halte diese ›Diplomatie um jeden Preis‹ für falsch und bin der gleichen Meinung wie Brandt, der vor den Folgen einer Zurückhaltung der Westmächte in der Berlin-Frage warnt.«
    Onkel Werner seufzt und holt uns einen Portwein aus dem Schrank, schenkt uns ein. »Auf eine bessere Welt!« Wir nehmen einen Schluck, dann steht er auf, geht ans Fenster, sieht eine Weile nachdenklich auf die Paulskirche, meint dann ganz in Gedanken:
    »Es ist schon seltsam. Seit dein Großvater Heinrich in Moskau verfolgt wurde, ist die Welt nicht mehr zur Ruhe gekommen. Und inzwischen wird beinahe die ganze Welt von dem Land bedroht, in dem ich geboren wurde.« Er hält inne. »Und als ich vor nicht allzu langer Zeit in meiner Geburtsstadt war und das Haus meiner Kindheit wiedersehen wollte, wäre ich dafür sogar beinahe in der Butyrka gelandet.«
    Ich sehe ihn erstaunt an.
    »Nun, du warst ja vor kurzem erst in Rußland, du hast ja selbst erlebt, was für ein Geist dort herrscht. Ich war ungefähr zur selben Zeit dort wie du, und was ich erlebt habe, werde ich sicher nie in meinem Leben vergessen.«
    Und während im Büro der Sekretärin nebenan die neuesten Entwicklungen in der Berlin-Krise im Minutentakt über den Fernschreiber eintreffen und Deutschland eine der schwersten Krisen der Nachkriegszeit zu bestehen hat, läßt Werners Geschichte uns für Augenblicke in eine ganz andere Welt eintauchen - bizarr, unwirklich und doch beklemmend real.

Nastasjas traurige Augen
    Moskau, Juli 1958. Ein schwerer Geruch nach billigem Benzin liegt über der Stadt, als Werner Bockelmann sich vom Flughafen aus seinem Hotel im Zentrum nähert. Er ist als Oberbürgermeister von Frankfurt am Main, Mitglied einer Delegation, die hier zu Gesprächen und einem Besichtigungsprogramm eingeladen ist.

    Es ist das erste Mal seit der Flucht der Familie vor fast genau 44 Jahren, daß Werner sein Geburtsland, seine Geburtsstadt wiedersieht. Er hat natürlich nicht erwartet, die Prachtstadt seiner Kindheit wiederzufinden, aber langsam fühlt er doch eine gewisse Beklemmung angesichts der Fülle der Bausünden und des Maßes an Verfall. So hatte er es sich nicht vorgestellt. Er hofft, daß das Haus seiner Kindheit überhaupt noch steht, daß die ehemalige Junker-Bank nicht in einem vollkommen desolaten Zustand ist. Die Dolmetscher möchte er im Augenblick nicht fragen, sie scheinen ohnehin ein wenig verstimmt zu sein, seit sich herausstellte, daß Werner fließend russisch spricht und ihre Dienste somit überflüssig geworden sind - und damit gleichzeitig auch jede Möglichkeit der Manipulation im Keim erstickt wurde.
    Werner ist dankbar dafür, die Sprache dieses Landes zu sprechen und sich ein eigenes Bild machen zu können. Er ist dankbar für seine Kindheit und die Art, wie sie sein Weltbild geprägt hat. Einmal hat es ihm sogar schon das Leben gerettet, russisch zu

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